Der Scherbensammler
sie hingen einfach nur rum. Wenn er vorsichtig war, würde nichts passieren.
Pfeifend ging er zu dem Zimmer, in dem er Mina eingesperrt hatte. Mit der Kraft war auch sein Optimismus wieder zurückgekehrt. Alles würde sich zum Guten wenden. Und hatten sie das nicht verdient, Mina und er?
Imke saß untätig an ihrem Schreibtisch. Der Monitor hatte sich abgemeldet, der Computer war auf Stand-by gegangen, nur das grüne Licht erinnerte daran, dass Imke ihn irgendwann eingeschaltet hatte. Sie hatte gehofft, die Leere, die sie verspürte, mit Worten füllen zu können. Aber da waren keine Worte, und es gab keinen Zylinder, kein schwarzes Tuch und keinen Hokuspokus, um welche hervorzuzaubern.
Tilo hatte Ruth gebeten, seine Termine für den nächsten Tag abzusagen. Ruth hatte Imke ausrichten lassen, sie sei in Gedanken bei ihr und wünsche ihr von Herzen, dass Jette bald wieder wohlbehalten zurückkehre. Sie hatte selbst eine Tochter. Sie konnte sich vorstellen, wie Imke zumute sein musste.
»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
Imke zuckte zusammen. Sie hatte Tilo nicht hereinkommen hören. Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn Jette sich meldet …«
»Ike …«
Imke schluckte an dem Kloß in ihrem Hals. Jette konnte sich gar nicht melden. Jemand, wahrscheinlich dieser Ben, hatte ihr das Handy abgenommen. Auch Merle und Mina hatten kein Handy mehr.
»Vielleicht finden die Mädchen ja eine andere Möglichkeit, um zu telefonieren. Und vielleicht wählen sie zuerst die Festnetznummer. Dann muss ich doch hier sein. Wer weiß, ob sie die Chance haben, es ein zweites Mal …«
Ihre Stimme ließ sie kläglich im Stich. Nicht weinen. Nicht weinen. Das würde alles noch schlimmer machen.
»Dann komm wenigstens mit nach unten. Du machst dich doch nur selbst verrückt.«
Sie sollte ihre Mutter anrufen. Sie hatte nicht das Recht, ihr zu verheimlichen, dass Jette verschwunden war. Aber sie konnte jetzt mit niemandem sprechen. Sie fuhr den Computer herunter und folgte Tilo in den Wintergarten.
Er behandelte sie wie ein rohes Ei. Zerfloss vor Schuldgefühlen. Doch die konnte sie ihm nicht nehmen. Sie wollte es auch nicht.
Nur weil Mina seine Patientin war, hatte Jette sie im Garten auflesen können.
Hätte er Mina nicht in der Wohnung der Mädchen weiter therapiert, hätte er diesen Ben nicht zu ihnen geführt.
Weshalb wohl sollte sie Tilo die Absolution erteilen?
»Sieh mich nicht so an«, sagte er. »So … verletzt und enttäuscht.«
Imke wusste, dass sie jetzt etwas sagen sollte, das ihn entlastete. Aber sie konnte es nicht.
Sie wandte den Blick ab.
Tilo empfand ihre stumme Abweisung als gerechte Strafe. Er hatte sie verdient. Seine Unvorsichtigkeit hatte Ben zu den Mädchen geführt. Und obwohl er wusste, dass in einem Mordfall jede Kleinigkeit wichtig sein konnte, hatte er nicht daran gedacht, dem Kommissar von Bens Besuch zu erzählen.
Noch wusste er nicht genau, ob der Kommissar Ben für den Eindringling hielt, doch das kurze Telefongespräch ließ eigentlich keine andere Deutung zu.
Ben. Wie oft hatte Tilo Mina diesen Namen nennen hören. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass Ben in irgendeiner Weise gefährlich sein könnte. Aber vielleicht war er das ja auch gar nicht. Vielleicht war er einfach nur eine Spur unter anderen.
Tilo war nicht der Typ, der sich selbst beschwichtigte. Er war fähig, sich einem Problem zu stellen, und er war nicht so vermessen zu glauben, er sei unfehlbar. Es gehörte jedoch zu seinen Grundsätzen, sich mit einem Problem erst dann zu befassen, wenn es akut war. Im Augenblick beschäftigte ihn erst einmal die Sorge um seine Patientin.
Mina war noch nicht stabil genug, um eine solche Situation zu bewältigen. Sie steckte nicht nur mitten in einer schwierigen Therapie, sondern war auch in zwei Mordfälle verwickelt. Ihre Persönlichkeiten hatten angefangen, einander wahrzunehmen. Es würde sich eine Hierarchie herausbilden, und das würde nicht ohne Kämpfe abgehen. Vor allem aber wusste niemand, wie viele Persönlichkeiten sich noch zeigen würden.
Tilo blickte auf die Fensterfront des Wintergartens. Ein Mann und eine Frau spiegelten sich in dem schwarzen Glas. Nah beieinander und doch weit voneinander entfernt.
Sie saß da und starrte ins Leere. So hatte er sie schon oft gesehen. Es hatte ihn verwirrt, nicht zu wissen, wo sie sich befand, wenn sie in einem solchen Zustand war. Ein paarmal hatte er versucht, sie da rauszuholen, doch es war ihm nicht gelungen. Sie war
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