Der Scherbensammler
ein vom Glück begünstigter Mensch und kam mit dem Leben nicht zurecht. Die kleinste Irritation konnte sie aus dem Gleichgewicht bringen.
Weil ich zweimal hintereinander beinah mein Kind verloren hätte, sagte sie sich. Weil ich jedes Mal am Rand eines Nervenzusammenbruchs gestanden habe. Und weil das Leben eben alles andere ist als einfach, fügte sie trotzig hinzu.
»Frau Thalheim?«
Sie hatte den Faden verloren, wusste nicht, worum es gerade ging. Alle Gesichter waren ihr zugewandt. Und das vor laufenden Kameras. Live.
»Entschuldigung«, sagte sie offen. »Ich habe ihre Frage nicht verstanden.«
Während die Moderatorin die Frage wiederholte, begegnete Imkes Blick dem von Bert Melzig. Sie las Respekt in seinen Augen. Und eine Spur von Belustigung. Und noch etwas anderes, das sie nicht darin lesen wollte.
»Das Schreiben ist für mich von Anfang an auch Überlebensstrategie gewesen«, sagte sie. »Es lässt mich die Wirklichkeit ertragen.«
Was ist deine Strategie?, dachte sie und betrachtete sein Gesicht, dessen Falten sich durch die Sommerbräune vertieft hatten. Wie hältst du aus, womit du dich tagtäglich auseinandersetzen musst?
Ihr fiel ein, dass Tilo ihr versprochen hatte, sich zu Hause die Talkshow anzuschauen. Unwillkürlich senkte sie den Blick. Und fragte sich, warum sie sich schuldig fühlte.
Klasse sah sie aus. Tilo hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass Imke eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens war. Dass er ihre Stimme im Radio hörte, bei der Zeitungslektüre auf ihr Foto stieß und im Bus, in der Bahn oder in Cafés Leuten begegnete, die in die Lektüre ihrer Bücher versunken waren. Und jetzt betrachtete er sie auf dem Bildschirm.
Tilo war kein Fan von Talkshows. Er interessierte sich nicht für sogenannte Prominente und erst recht nicht für ihre Filme, Bücher oder CDs, für die sie auf roten, schwarzen oder gelben Sofas ungehindert Werbung machen durften. Es gefiel ihm, dass Imke nicht ein einziges Mal auf einen ihrer Romane verwies.
Sie schien sich nicht wohlzufühlen in der Runde, war überraschend still. Als ginge sie das ganze Thema überhaupt nichts an. Als sie sich von ihm verabschiedet hatte, war sie ungewöhnlich nervös gewesen. Sie hatte sogar noch einmal zurückkommen müssen, weil sie ihre Handtasche vergessen hatte.
»Es wird sicher spät«, hatte sie gesagt. »Warte nicht auf mich. Meistens geht man anschließend noch zusammen essen.«
Ihm war das recht. Er hatte viel zu tun. Vor allem wollte er heute Abend das Protokoll der letzten Sitzung mit Mina ausarbeiten. Es war der erste Fall von dissoziativer Identitätsstörung, mit dem er in Berührung gekommen war. Eigentlich hätte er Mina lieber zu einem Kollegen geschickt, der Erfahrung mit diesem Phänomen hatte. Doch Mina hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt.
»Ich fasse nicht so leicht Vertrauen zu fremden Menschen«, hatte sie gesagt. »Bitte behalten Sie mich!«
Er hatte versucht, sie umzustimmen, aber sie war bei ihrer Weigerung geblieben. Schließlich hatte sie ihn vor die Wahl gestellt: Therapie bei ihm oder überhaupt keine Therapie.
Tilo war sich der enormen Verantwortung bewusst, die er übernommen hatte. Er bereitete sich gründlichst auf die Sitzungen vor, fertigte ausführliche Protokolle an, beschäftigte sich in jeder freien Minute mit Literatur zu der Materie.
Und dann war er doch an seine Grenzen gestoßen - er hatte die notwendige Trennung zwischen Beruf und Privatleben nicht eingehalten.
Mina war durch den Tod ihres Vaters so in Panik geraten, dass er unbedingt weiter mit ihr arbeiten musste. Sie war jedoch zurzeit nicht in der Lage, ihn in seiner Praxis aufzusuchen. So hatte es sich ergeben, dass er sie in Jettes und Merles Wohnung therapierte.
Jette hatte ihm das Versprechen abgenommen, ihrer Mutter nichts davon zu erzählen. »Du weißt, dass sie immer gleich überreagiert«, hatte sie gesagt. »Sie muss nicht wissen, dass ein Mädchen bei uns wohnt, das eine …«
Keiner von ihnen sprach es aus. Allein das Wort war ungeheuerlich. Mörderin.
Tilo war von Minas Unschuld überzeugt. Sein Unterbewusstsein jedoch schien anderer Meinung zu sein. In seinen Träumen trug Mina die blutbefleckten Kleider, in denen Jette sie gefunden hatte.
Die Sitzungen waren belastend für alle Seiten. Das Team stand unter Schock. Die Persönlichkeiten, die begonnen hatten, sich allmählich zu stabilisieren, hatten den Boden unter den Füßen verloren. Sie reagierten
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