Der Scherbensammler
Duft ihres Haars einatmen. Jeden einzelnen ihrer Finger mit den Lippen berühren.
»Mit Ihnen anstoßen«, wich er aus und hob sein Glas.
Über den Rand der Gläser hinweg sahen sie sich in die Augen.
»Seltsam, dass unsere Wege sich schon wieder kreuzen«, sagte sie. »Ich meine damit nicht nur die Talkshow. Ich denke auch an die Tochter dieses Toten aus der alten Fabrik.«
»Mina Kronmeyer?«
»Ja. Sie ist eine Patientin meines … Lebensgefährten.«
Bert hatte das kurze Zögern wahrgenommen. Eine wilde Freude durchzuckte ihn. Dann rief er sich ins Gedächtnis, dass Tilo Baumgart ein sympathischer, kompetenter Mensch war, den er im Grunde seines Herzens mochte. Und womöglich hatte das Zögern auch gar nichts zu bedeuten.
»Oh.« Erschrocken hielt sie sich den Mund zu. »Wahrscheinlich hätte ich Ihnen das gar nicht sagen dürfen.«
»Ich wusste bereits davon.«
Imke lächelte erleichtert. Er sollte besser das Thema wechseln, damit er sie nicht dazu verführte, das Vertrauen ihres Freundes tatsächlich zu missbrauchen. Doch es gelang ihm nicht.
»Das Mädchen ist verschwunden«, sagte er. »Schon seit einigen Wochen. Sie ist nicht einmal zur Beerdigung ihres Vaters gekommen.«
Imke wurde rot. Sie malte mit der Kuppe des Zeigefingers ein unsichtbares Muster auf die Tischdecke. »Haben Sie denn schon eine heiße Spur in diesem Mordfall?«
Bert bemerkte ihr Ausweichmanöver. Er respektierte ihre Verschwiegenheit. »Noch nicht. Diese Wahren Anbeter Gottes, wie sie sich nennen, sind eine verschworene Gemeinschaft. Da hackt keine Krähe der andern ein Auge aus.«
»Sie mögen die Frommen nicht?« Imke schmunzelte.
»Ich mag die Frömmler nicht.« Nachdenklich nippte er an seinem Wein. »Und die allzu Frommen. Die bereiten mir, wenn ich ehrlich sein darf, höllisches Unbehagen.«
»Ein hübsches Bild!« Sie lachte.
Berts Gedanken wanderten davon. Er hatte ohnehin vor, Tilo Baumgart anzurufen, um einen Termin mit ihm auszumachen. Oder - nein. Er würde besser unerwartet bei ihm auftauchen. Die Menschen waren gesprächiger, wenn man sie überrumpelte.
Auch ihre Wege kreuzten sich wieder. Und der Grund dafür gefiel Bert ganz und gar nicht.
Kapitel 11
Wie ging man mit so etwas um? Ich sah dasselbe Mädchen vor mir, wusste aber jetzt, dass dieses Mädchen nur eine - wie Tilo es ausgedrückt hatte - Facette der Gesamtpersönlichkeit Mina war. Eine andere Facette war Cleo, vor der ich mich seit unserer ersten nächtlichen Begegnung fürchtete.
Das machte meine Gefühle für Mina kompliziert. Marius hatte ich ins Herz geschlossen und auch die kleine Clarissa hatte sich inzwischen darin eingenistet, aber auf ein weiteres Treffen mit Cleo war ich nicht scharf.
»Du kannst sie nicht ausklammern«, hatte Merle mir vorgeworfen. »Sie gehört ebenso zu Mina wie die andern auch.«
Sie hatte recht, aber alles in mir sträubte sich dagegen, Cleo einen Platz in meinem Leben einzuräumen. Sie war hart und kalt und hatte mir wehgetan.
Manchmal erzählte ich Frau Sternberg von Mina. Frau Sternberg hörte mir zu, drehte sich um und hatte jedes Wort wieder vergessen. Doch während sie zuhörte, zeigte sie Verständnis und Mitgefühl, und mehr wollte ich nicht.
Mit wem hätte ich sonst darüber reden können? Mit meiner Mutter, die sofort wieder eine Katastrophe gewittert hätte? Mit meiner Großmutter, die ich damit in einen Loyalitätskonflikt gestürzt hätte? Nein. Da war es schon besser, Frau Sternberg ins Vertrauen zu ziehen.
»Ach je, Kindchen«, sagte sie. »Ach je.«
Ich konnte nicht feststellen, wie viel sie von dem verstand, was ich ihr erzählte. Oft kam sie Tage später auf etwas zurück, worüber ich gesprochen hatte. Als hätte es sich in einem Winkel ihres Kopfs festgesetzt und nachgewirkt. In solchen Augenblicken war sie völlig klar. Dann sah sie mich anders an, ihre Körperhaltung veränderte sich und sie wirkte selbstbewusst und stark.
Der Mord an Minas Vater verschwand nicht aus den Schlagzeilen. Offenbar ermittelte die Polizei nun auch wegen Korruption. Bis in die oberen Schichten der Gesellschaft hinein. Man fragte sich, ob der Mord an Minas Vater eine Folge von Bestechung und Erpressung war.
Merle und ich klammerten uns an diese Möglichkeit. Wir waren bereit, an alles zu glauben, was Mina entlastete. Doch es gelang uns nicht ganz. Unsere Vergangenheit holte uns wieder ein. Und mit ihr die Angst.
Mina spürte das, und wir vertrauten ihr an, was damals geschehen war. Es tat noch immer
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