Der Scherbensammler
System der Persönlichkeiten ein eigenes Wort gefunden«, sagte Tilo. »Sie nennt es Team. Ich finde den Begriff passend gewählt, denn in einem Team halten alle zusammen, und genau das ist es, was die verschiedenen Persönlichkeiten tun sollen.«
Was ihnen aber nicht gelingt, dachte Mina. Immer wieder überschreitet einer eine Grenze und die andern kriegen nichts davon mit. Sie schauderte.
Wer von uns hat den Vater ermordet?
»Am besten, ich beschreibe euch einfach mal einige der Persönlichkeiten«, schlug Tilo vor. »Damit ihr wisst, mit wem ihr es zu tun habt. Da ist zunächst die Gastgeberin. Das ist die Persönlichkeit, die ihr zuerst kennengelernt habt.«
»Die Mina, die sich im Garten meiner Mutter versteckt hat«, sagte Jette.
»Richtig. Die Gastgeberin versucht, den Alltag zu managen. Sie wusste lange nichts von den übrigen Persönlichkeiten und glaubte, sie wäre verrückt. Sie hörte Stimmen in ihrem Kopf. Entdeckte Einträge in ihrem Kalender, die nicht in ihrer eigenen Handschrift geschrieben waren. Sie verließ am Vormittag das Haus und plötzlich waren zwei Tage vergangen, an die sie nicht den Hauch einer Erinnerung hatte. Sie ist es gewesen, die zu mir kam und mich um Hilfe bat.«
»Ist sie diejenige, die so große Angst hat?«, fragte Merle. »Und die glaubt, ihren Vater … getötet zu haben?«
»Ja.« Tilo lächelte Mina zu. »Aber Mina hat es nicht getan.«
Mina beobachtete die Gesichter der Mädchen. Sie erkannte den Zweifel, noch bevor Jette und Merle sich seiner bewusst wurden.
»Nein.« Tilos Lächeln vertiefte sich. »Keine der Persönlichkeiten, die sich mir bisher gezeigt haben, würde einen Mord begehen. Ganz sicher nicht.«
Mina merkte, wie ihr die Tränen kamen. Sie drängte sie zurück. Tilo würde eines Besseren belehrt werden. Und dann würde er ihr nicht mehr vertrauen. Dann hätte sie niemanden mehr, der an sie glaubte. Niemanden außer Ben.
Ben, ich vermisse dich. Sollte ich je wieder nach Hause kommen, dann deinetwegen.
Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. Die letzten Monate bei den Eltern waren in ihrem Kopf wie ausgelöscht.
»Die Gastgeberin ist diejenige Persönlichkeit, der ihr bisher wahrscheinlich am häufigsten begegnet seid«, sagte Tilo. »Aber bestimmt habt ihr auch schon Bekanntschaft mit Cleo gemacht.«
»Cleo?«, fragte Jette.
»Die Kämpferin.« Tilo hatte sich wieder den Mädchen zugewandt. Er gab sich wirklich Mühe, ihnen das Unbegreifliche verständlich zu machen. »Sie hat vor nichts und niemandem Angst. Cleo setzt durch, was sie durchsetzen will. Widerstände können sie nicht aufhalten. Sie ist körperlich durchtrainiert und seelisch stark. Sie ist intensiv und konzentriert. Cleo beherrscht Tai Chi Chuan, eine alte chinesische Form des Kampfes, und ich würde keinem raten, sich mit ihr anzulegen.«
Es war seltsam, Tilo so reden zu hören. Als hätte ich selber gar nichts damit zu tun, dachte Mina. Als wär ich die Figur in einem Buch, über das er spricht.
»Ganz anders ist Clarissa.« Tilos Stimme wurde weich. »Clarissa ist fünf. Sie lispelt ein bisschen und ist voller Angst. Sie hat eine große Begabung fürs Zeichnen und malt wunderschöne Bilder. Wenn sie groß ist, will sie ganz viele Katzen haben und mit ihnen auf einem Bauernhof leben. Clarissa liebt Katzen. Sie hat auch mal eine gehabt, doch die ist gestorben. Sie hat das noch immer nicht verwunden.«
Mina spürte Traurigkeit in sich aufsteigen. Eine Traurigkeit, die sie jedes Mal beim Anblick einer Katze überfiel oder in Situationen, in denen von Katzen die Rede war. Sie blickte zum Fenster. Der Himmel hatte sich bezogen. Seltsamerweise freute sie sich darüber. Sie hätte das Sonnenlicht jetzt nicht ertragen.
»Dann gibt es Marius, den Unerschrockenen, einen fünfzehnjährigen Jungen, der …«
»Ein Junge?« Merle zupfte an ihren Stirnfransen. Sie war so aufgeregt, dass sie die Hände nicht ruhig halten konnte. »Die Persönlichkeiten können männlich sein?«
»Oh ja. Und sie können uralt sein und ganz jung. Sie können unterschiedliche Religionen haben und in unterschiedlichen Sprachen sprechen. Sie können sich sogar in einem völlig unterschiedlichen Gesundheitszustand befinden. Die eine Persönlichkeit kann allergisch reagieren, die andere nicht, die eine leidet unter Migräne, die andere hat nie Kopfschmerzen gehabt.«
Die Mädchen hatten Mühe, Tilos Worte zu verarbeiten. Mina verstand das gut. Sie waren von den Informationen ja förmlich überrumpelt
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