Der Scherbensammler
Espresso. Gibt’s hier auch was Vernünftiges zu trinken?«
Mina dagegen liebte Espresso. Sie war beinah süchtig danach.
»Wir haben Wasser, Saft, Milch … am besten, du guckst im Kühlschrank nach.« Jette gab sich bewundernswert natürlich. Als sei dies eine völlig normale Situation.
Marius stand auf und trottete zum Kühlschrank. Er bewegte sich schlaksig und so, als sei alles an ihm zu groß geraten, als seien ihm die Arme und Beine im Weg. Mit einer Dose Cola, ebenfalls von Claudio spendiert, kam er zurück. Er öffnete sie und trank, den Kopf weit zurückgelegt.
Fasziniert betrachtete Merle seinen kräftigen Hals und beobachtete, wie Marius die Dose auf den Tisch stellte und sich mit dem Handrücken den Mund abwischte.
»Die Leute behandeln dich wie den letzten Dreck«, sagte er. »Wenn du es ihnen erlaubst. Aber an mir beißen sie sich die Zähne aus. Ich lass mich nicht unterkriegen. Das hab ich mir irgendwann geschworen.«
»Nicht alle sind so«, wagte Merle sich vor.
»Nee, manche sind auch wie ihr. Gutmütig, freundlich und hilfsbereit.« Marius schniefte abschätzig. »Was erwartet ihr dafür? Einen Logenplatz im Himmel? Den ewigen Seelenfrieden? Oder was?«
»Nichts«, sagte Merle. »Wir mögen Mina einfach. Das ist alles.«
Jette nickte. »Dich würden wir auch gern kennenlernen.«
»Das gibt’s nicht.« Marius hatte die Dose leer getrunken und zerdrückte sie in der Hand. »Keiner ist einfach nur gut. Jeder hat seine Macken.«
»Du glaubst, wir hätten Mina das Zimmer hier nur angeboten, weil wir gute Menschen wären?« Merle schüttelte den Kopf. »Wirken wir denn so …«
»… bigott?«, half Jette aus.
Marius runzelte die Stirn. »Bigott?«
Merle wusste mit dem Wort ebenso wenig anzufangen.
»Das bedeutet frömmlerisch«, erklärte Jette. »Oder scheinheilig.« Sie hob kokett die Schultern. »Wisst ihr, ein bisschen Bildung kann wirklich nichts schaden.«
Marius fing an zu lachen. Unbekümmert, ansteckend und laut. Zögernd fiel Merle ein.
»Jetzt habt ihr Donna und Julchen erschreckt.« Jette zeigte grinsend auf das Sofa, unter dem die Spitzen zweier Katzenschwänze hervorlugten.
»Tschuldigung!« Marius konnte kaum sprechen. »Ich hab nur so lange nicht mehr richtig gelacht.« Er hielt sich die Seite. Tränen liefen ihm über die Wangen. Und weil Mina sich am Morgen geschminkt hatte, löste die Wimperntusche sich auf und malte ein groteskes Muster auf seine Haut.
Merle holte einen ölgetränkten Wattebausch aus dem Badezimmer und drückte ihn Marius in die Hand.
Er beruhigte sich allmählich und starrte dann verblüfft auf den Wattebausch hinunter.
»Deine Augen«, sagte Merle.
Da erst begriff er und benutzte ihn. So ungeschickt, als habe er das noch nie gemacht. Und wahrscheinlich stimmt das auch, dachte Merle. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie unheimlich ihr zumute war.
Sie hatten die andern abgehängt und waren allein losgezogen. Jetzt saßen sie sich in einem italienischen Restaurant gegenüber, umgeben von Menschen, Essensdüften und Stimmengewirr. Ab und zu klang ein Lachen zu ihnen herüber und manchmal lachten sie selbst.
»Schön, dass wir uns wieder begegnet sind«, sagte Bert.
Imke strahlte ihn an. Sie sah hinreißend aus. Der Sommer hatte sich ihr aufs Haar gelegt und auf die Haut. Das Kerzenlicht ließ ihre Augen leuchten. Bert konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal in der Gegenwart eines anderen Menschen so wohlgefühlt hatte.
»Ruhe ist in mein Leben eingekehrt«, sagte Imke. »Endlich. Ich hatte schon gar nicht mehr darauf zu hoffen gewagt.« Sie erzählte von Jette und Merle, von Ilka und Mike. »Sie haben sich alle ein Jahr Zeit genommen, um zu erkunden, in welche Richtung sie gehen wollen.«
»Gefällt mir.« Bert sah die jungen Leute lebhaft vor sich. »Ich wollte, ich hätte auch diese Möglichkeit gehabt. Vielleicht wäre dann alles anders geworden.«
Erstaunt hörte er sich zu. Was redete er denn da? War er nicht zufrieden mit seinem Leben? Seinem Beruf? Zufrieden ja, dachte er. Aber eben nur das. Doch sollte nicht jeder Mensch glücklich sein?
Er hatte vergessen, wie gut Imke zuhören konnte. Und wie leicht sie ihm die Zunge löste. Er verspürte das Bedürfnis, sich ihr rückhaltlos anzuvertrauen. Auch das hatte er lange nicht mehr empfunden.
»Was würden Sie gern tun?«, fragte sie.
Was er gern tun würde? Ihre Hand nehmen und streicheln und nie mehr loslassen. An ihrem Ohrläppchen knabbern und den
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