Der Scherbensammler
worden. Sie wollte Tilo unterbrechen, aber er redete schon weiter.
»Marius lässt anscheinend keinen an sich heran. Er braucht die Distanz. Und er nimmt sie sich. Vorschriften akzeptiert er nicht. Gegen Verbote rebelliert er. Ich kenne Marius erst seit ein paar Tagen und weiß noch nicht mehr über ihn. Allerdings hat er mir unmissverständlich klargemacht, dass er Therapien misstraut und jeden Psychologen am liebsten zum Teufel jagen würde. Er möchte nicht geduzt werden und kann ganz schön ruppig sein.«
Tilo würde schon noch erfahren, dass Marius zwei Seiten hatte. Eine war rau und bitter, die andere verletzlich und zart. Mina mochte diesen Jungen. Er war immer ehrlich und geradeheraus und machte einem nichts vor. Bis vor Kurzem hatte er keine Lust gehabt, nach draußen zu gehen. Aber seit sich alles so zugespitzt hatte, war das Team in Unordnung geraten. Nichts war mehr wie zuvor.
»Wir wissen noch nicht, wie viele Persönlichkeiten es insgesamt gibt und vielleicht werden wir die genaue Anzahl nie erfahren. Aber wir wissen, dass in der Höhle, die ich bereits erwähnt habe, eine ganze Reihe kindlicher Persönlichkeiten schlafen. Soraya, die Wächterin, hat die Aufgabe, sie zu beschützen, ihren Schlaf zu bewachen und sie zu beruhigen, wenn sie schlecht träumen.«
Mina wurde ganz warm ums Herz, als sie an Soraya dachte. Und an die Kleinen. Manchmal wünschte sie, sie könnte sich für immer bei ihnen verkriechen. Aber das ging nicht. Sie hatte draußen ihre Aufgaben, die sie erfüllen musste.
»Es gibt Carlos, den Türsteher. Er bestimmt, wer wann hinausdarf, damit es zu möglichst wenig Überlappungen kommt.«
»Überlappungen?«, fragte Merle.
»Den Wechsel zwischen den Persönlichkeiten nennt man in der Fachsprache Switch. Wenn das zu oft und zu schnell aufeinander erfolgt, entsteht für die Persönlichkeiten ein starker Stress. Sie brauchen Zeit, um sich auf die jeweils neue Situation einzustellen.«
Jette rieb sich die Augen. Es wurde allmählich zu viel für sie. Aber Tilo war noch nicht fertig.
»Und schließlich gibt es den Scherbensammler, eine besonders wichtige Persönlichkeit. Er verfügt über ein phänomenales Wissen und hat ein fotografisches Gedächtnis. Das heißt, er erinnert sich an alles, was er je gesehen hat. Er sammelt die Scherben von Minas Erfahrungen und entscheidet, wie viel davon ihr zugemutet werden darf.«
Die Mädchen runzelten fragend die Stirn.
»Die Persönlichkeiten spalten sich ja ab, weil Mina traumatische Erlebnisse nicht bewältigen konnte. In der Therapie muss sie sich diesen Erfahrungen wieder nähern. Aber das geht nur ganz langsam und Schritt für Schritt. Der Scherbensammler achtet darauf, dass Mina nicht überfordert wird. Er ist es übrigens auch, der dafür sorgt, dass das gesamte Team funktioniert.«
Tilo verschränkte die Hände auf den Knien. Er wartete auf die Reaktion der Mädchen. Die saßen da wie betäubt. Mina versuchte ein Lächeln, aber ihr Gesicht war wie gefroren.
»Wenn es die Gastgeberin ist, die hauptsächlich mit uns lebt«, sagte Jette schließlich zögernd, »wenn sie aber auch nur eine der Persönlichkeiten ist …« Sie brach ab und schüttelte verwirrt den Kopf.
»Und wenn der Kern von Minas Persönlichkeit in dieser Höhle schläft«, setzte Merle den Gedankengang fort, »mit welchem Namen sollen wir …?« Sie richtete den Blick auf Mina. »Dich … ich meine, was sollen wir zu dir sagen?«
»Nennt mich Mina«, sagte Mina. »Wie ihr es immer getan habt.«
»Ich würde gern bleiben.« Tilo sah auf die Uhr. »Aber ich habe gleich einen Termin und muss los.«
Er ging und ließ sie in einem Schweigen zurück, das keine von ihnen zu durchbrechen wagte.
Kapitel 10
Imke hasste es, vor einem Fernsehauftritt geschminkt zu werden. Zu viel Make-up, zu viel Lidschatten und viel zu viel Puder. Aber sie wusste, dass es notwendig war. Was im Spiegel übertrieben und geschmacklos aussah, wirkte auf dem Bildschirm dezent und attraktiv. Also ergab sie sich geduldig in ihr Schicksal und überließ sich mit geschlossenen Augen den kundigen Händen der Maskenbildnerin, einer jungen Frau Ende zwanzig, die in kürzester Zeit den gesammelten Klatsch der Szene vor ihr ausbreitete.
Dabei erwartete sie keine Antwort von Imke. Ein gelegentliches »Ach« reichte ihr schon aus und eine kurze Zwischenfrage machte sie geradezu glücklich. Imke tat ihr den Gefallen, doch nach einer Weile hörte sie nur noch die Worte, ohne auf ihren Sinn zu
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