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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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achten.
    Vor ihrem Aufbruch hatte sie mit Jette telefoniert und gefunden, dass die Stimme ihrer Tochter sonderbar klang. Sie hatte sich gefragt, ob Jette wieder in Schwierigkeiten steckte, hatte das aber nicht geäußert. Jette reagierte in letzter Zeit allergisch auf mütterliche Besorgnis und witterte in allem eine Bevormundung.
    Seit Tilo in der Mühle ein und aus ging, hatte Imke sich ein bisschen mehr von ihrer Tochter gelöst. Sie rief sie seltener an, und es gab Tage, an denen es ihr gelang, bis zum Abend nicht an sie zu denken. Das schenkte ihr ein Gefühl  von … Unabhängigkeit, das sie mitunter sogar genießen konnte.
    Hatte ihre neuerliche Besorgnis damit zu tun, dass Tilo in letzter Zeit so viel arbeitete? War sie vielleicht eines dieser Muttertiere, die nicht glücklich sein konnten, wenn sie niemanden zum Verhätscheln hatten?
    Fast hätte sie energisch den Kopf geschüttelt. Sie öffnete die Augen einen kleinen Spalt. Die Maskenbildnerin stand über sie gebeugt. Imke konnte feststellen, dass die junge Frau selbst, bis auf Wimperntusche und Lippenstift, ungeschminkt war. Das ist so, als würde eine Frau im achten Monat die Beratungsgespräche in einer Klinik für Schwangerschaftsabbrüche führen, dachte Imke und empfand jetzt schon ein Unbehagen, wenn sie an den ersten Blick in den Spiegel dachte.
    Der fiel dann tatsächlich furchtbar aus. Erschrocken starrte Imke sich an. Eine dicke Schicht von Make-up und Puder bedeckte ihr Gesicht. Wie eine Maske aus porösem Stein.
    »Zufrieden?« Die Maskenbildnerin bewegte den Handspiegel hinter Imke auf und ab. Sie hatte sie auch frisiert und wartete lächelnd auf ein Lob.
    Imke traute sich nicht, den Mund aufzumachen. Vielleicht würde diese Schicht bei der kleinsten Mimik abbröckeln. Wie in einem Horrorfilm. Und darunter käme nicht Imkes Haut zum Vorschein, sondern ein Loch, durch das man hindurchschauen könnte.
    »Grässlich«, rutschte es ihr heraus.
    Die Maskenbildnerin hörte nicht auf zu lächeln. »Das geht allen so«, sagte sie unbeeindruckt. »Aber im Fernsehen kommt das richtig gut, glauben Sie mir.«
    Etwas anderes blieb Imke ja auch nicht übrig. Trotzdem war ihr unbehaglich zumute. Es grauste ihr davor, den anderen so gegenüberzutreten. Sie hoffte inständig, dass Bert Melzig verhindert sein würde.
    Einige Minuten blieben ihr noch, dann holte ein freundlicher junger Mann mit einem Klemmbrett unterm Arm sie ab und führte sie ins Studio, wo bereits alle versammelt waren. Imkes Herz klopfte unvernünftig schnell, als ihr Blick suchend über die Runde glitt.
    Die Moderatorin begrüßte sie und stellte sie den übrigen Gästen vor. Imke registrierte erleichtert, dass alle aussahen wie sie, keinen Tag jünger als hundert. Und dann umschloss der Kommissar ihre Hand mit seiner. Die Schminke schien ihn nicht abzuschrecken und auch Imke nahm sein zugekleistertes Gesicht nur beiläufig wahr. Sie schaute direkt in seine Augen. Und dann rasch wieder weg.
    Sie saßen nicht nebeneinander, dennoch war sie sich seiner Nähe bewusst. Neben ihr palaverte der Priester über Ethik und Moral. Die Psychologin demonstrierte Gelassenheit. Der Journalist hörte müde zu. Der seit zwei Monaten wieder in Freiheit lebende Mörder erweckte den Eindruck, als würde ihn all das hier absolut nicht interessieren. Der Schauspieler zündete sich mit gelb verfärbten Fingern eine Zigarette an.
    Imkes Blick kehrte immer wieder zu den Eltern des ermordeten Mädchens zurück. Sie saßen da wie betäubt. Dabei war ihre Tochter schon seit über zehn Jahren tot. Imke spürte ein Frösteln. Sie wusste, auch sie würde niemals darüber hinwegkommen, wenn Jette etwas zustieße.
    Die Moderatorin verstand es nicht, eine Diskussion in Gang zu bringen. Sie unterbrach jeden Gedanken, noch bevor er ausformuliert worden war. Deshalb blieb es bei Andeutungen und Behauptungen.
    Imke war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie es verantworten konnte, in einer Welt der Verbrechen Krimis zu schreiben. Sollte Literatur nicht ein Gegengewicht bieten? Sie hörte die Sätze, die gesagt wurden, wie losgelöst von der  Situation und fragte sich, was sie hier eigentlich zu suchen hatte.
    Das Verbrechen ist die Antwort auf ein sinnleeres Sein.
    Es ist einfach über mich gekommen. Ich konnte mich nicht dagegen wehren.
    Der Strafvollzug bessert einen Menschen nicht.
    Sie hatte nichts anderes erwartet. Trotzdem war sie enttäuscht. Ihr war zum Heulen zumute und sie hatte keine Ahnung, warum. Sie war

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