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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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weiß was dafür gegeben, wenn ihre Tochter sie mehr in ihr Leben einbezogen hätte.
    Ruhelos ging sie ins Haus zurück und durchstreifte die Räume, verrückte hier einen Gegenstand, zupfte dort etwas zurecht. Im Wintergarten blieb sie vor dem Tisch stehen und betrachtete die Blumen in der bauchigen Vase.
    Tilo hatte sie ihr mitgebracht, einen dicken Strauß leuchtender Sonnenblumen, die er auf einem Feld in der Nähe gepflückt hatte. »Für Selbstpflücker« stand dort auf einem großen Schild. Ungelenk geschrieben, fast hingeschmiert. Selbstpflücker, dachte Imke, sooft sie daran vorbeifuhr, was für ein ulkiges Wort.
    Imke liebte Sonnenblumen. Ihr Anblick erfüllte sie mit Zärtlichkeit. Es reizte sie, behutsam mit der Fingerspitze an den Blütenblättern entlangzufahren und dann das samtige Gesicht der Pflanze zu berühren. Sie liebte Sonnenblumen, wie sie junge Tiere liebte. Es war etwas Tollpatschiges an ihnen, etwas Wehrloses, das sie instinktiv beschützen wollte.
    Gerade hatte sie sich umgedreht, um in die Küche zu gehen, als sie Tilos Notizbuch auf einem der Stühle liegen sah. Wahrscheinlich war es ihm vom Tisch gerutscht und er hatte es nicht bemerkt. Sie hob es auf. Behielt es unschlüssig in der Hand.
    Noch nie hatte sie einen Blick auf Tilos Aufzeichnungen geworfen. Es gehörte sich so wenig, ein fremdes Notizbuch aufzuschlagen, wie es sich gehörte, den Brief eines andern zu öffnen. Ihr war ein bisschen übel, als sie darüber nachdachte.
    Geschmackvoll gebunden. Auf der Vorderseite der Kopf einer großen Sonnenblume. Dennoch verabscheute Imke das Buch. Weil Tilo ein solches Geheimnis daraus machte.
    Tilo mochte Sonnenblumen, genau wie sie. Tilo mochte Spinnennetze, Spaziergänge im Regen und Klaviermusik. Er mochte den Nebel über den Feldern, Weihnachtsgeschenke und Schmetterlinge. Was er hasste, war Indiskretion. Und sie saß hier und hatte nur einen einzigen Wunsch - einen Blick in dieses Notizbuch zu werfen.
    Abrupt stand sie auf, um an den Schreibtisch zurückzukehren. Nein. Niemals würde sie sein Vertrauen missbrauchen. Nie.
    Welches Vertrauen denn?
    Die kleine, sarkastische Stimme verschaffte sich unerbittlich Gehör.
    Tilos etwa? Lächerlich! Achtet er nicht geradezu zwanghaft darauf, seine Siebensachen immer schön vor dir in Sicherheit zu bringen, damit du nicht in sein psychologisches Heiligtum eindringen kannst?
    Imke wollte nicht zweifeln, aber sie konnte nicht glauben, dass Tilo ihr wirklich vertraute. Doch das war noch lange kein Grund, in seinen Sachen zu schnüffeln. Was erwartete sie denn, in diesem Notizbuch zu finden?
    Ihr wurde klar, dass sie Tilo seine Verschwiegenheit übel nahm. Abend für Abend breitete sie ihre Gedanken vor ihm aus und weihte ihn in ihre Pläne ein. Den neuen Roman kannte Tilo, noch bevor ein Viertel geschrieben war.
    Und er? Genoss ihre Mitteilsamkeit und hielt sich bedeckt. Und wenn sie ihm Fragen stellte, kam immer die eine Antwort. Ein halber Satz nur. »Du weißt doch …«
    Ja. Sie wusste. Er durfte nicht reden. Und je länger er schwieg, desto dringender brauchte sie diesen einen, einzigen Liebesbeweis - dass er ihr ein Geheimnis anvertraute. Ein einziges Mal. Als Zeichen.
    Sie legte das Buch auf Tilos Lieblingssessel. Dort würde er es finden. Unversehrt. Sie hatte so lange gewartet. Sie würde weiter warten. Irgendwann würde er eine Zuhörerin brauchen. Und dann würde sie da sein.
     
    Sie konnte nicht ewig in dieser Wohnung bleiben, in diesem Zimmer, das beinah schon ihr Zuhause geworden war. Der Kommissar, den sie in der Talkshow beobachtet hatte, war zu klug, um sie nicht bald hier zu finden.
    Bestimmt hatte sie Spuren am Tatort hinterlassen. Bestimmt hatte jemand sie auf dem Weg zu Imke Thalheims Mühle gesehen. Man konnte nicht wie unter einer Tarnkappe durch die Gegend laufen, erst recht nicht in blutbespritzten Kleidern. Mina wunderte sich, dass sie noch immer auf freiem Fuß war.
    Abends konnte sie nicht einschlafen, weil sie sich wie unter Zwang das Schreckensszenario eines Gefängnisses ausmalte. Immerzu. Immerzu. Nachts fuhr sie aus dem Schlaf, weil sie vom Vater träumte. In diesen Träumen war er wieder lebendig. Und schrecklicher denn je. Seine Stimme war gewaltig. Und seine Kraft.
    So gewaltig, dass morgens manchmal das Bettlaken nass war.
    Mina steckte es schnell in die Waschmaschine. Sie schämte sich. Jette und Merle sagten nichts dazu, dass ständig Wäsche auf dem Speicher hing. Sie gingen einfach darüber hinweg.
    Tilo

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