Der Scherbensammler
überall und jederzeit erkannt hätte. Ihre Hände streichelten meinen Rücken und ließen mich gar nicht mehr los.
»Du interessierst dich für fernöstliche Lebensweisheiten?« Ich befreite mich aus ihrer Umarmung und machte Merle Platz, die schon darauf wartete, meiner Großmutter um den Hals zu fallen. »Ich dachte, du hättest alles Esoterische kategorisch für Mumpitz erklärt.«
»Hab ich auch. Aber diese Kristalle sind einfach zauberhaft. Und wenn es dann noch dem Raumklima dient …« Sie lächelte mich spitzbübisch an.
Meine Mutter hatte im Wintergarten gedeckt. Das Wetter konnte jeden Moment umschlagen. Wind war aufgekommen und es war merklich abgekühlt. Über die Terrasse wehten raschelnd die ersten Blätter.
»Was machen eure Freunde?«, fragte Großmutter. »Mike und diese … wie heißt sie noch?«
»Ilka«, sagten Merle und ich wie aus einem Mund.
»Deine Mutter hat mir erzählt, sie sind in Brasilien? Sie haben sich - wie nennt man das doch gleich - eine Auszeit genommen?«
Ich nickte. »Sie schreiben uns regelmäßig. Anscheinend geht es ihnen gut.«
»Und euch? Vermisst ihr sie?«
Ich warf Merle einen warnenden Blick zu. Sie durfte sich auf keinen Fall verplappern und von Mina erzählen. Meine Großmutter hatte einen Röntgenblick. Und außerordentlich gute Ohren. Es war nahezu unmöglich, ihr etwas zu verheimlichen.
Merle vertilgte das zweite Stück Kuchen. Solange sie aß, musste sie nicht reden. Sie hatte keine Erfahrung mit dem Vermeiden von Themen. Sie hatte fast nur Umgang mit Menschen, die die Wahrheit vertrugen, von Claudio einmal abgesehen.
»Dazu haben wir viel zu viel zu tun«, sagte ich und lockte meine Großmutter damit erfolgreich auf eine andere Fährte.
»Erzählt.« Sie lehnte sich zurück, um uns zuzuhören.
Meine Mutter hatte das Ausweichmanöver bemerkt. Ihr Gesicht nahm diesen Ausdruck an, den ich fürchtete. Der Zweifel hatte sich in ihr festgesetzt. Ich hoffte nur, dass sie nicht versuchen würde, herauszufinden, welches Geheimnis Merle und ich vor ihr verbargen.
Marlene Kronmeyer hatte nun doch eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Sie war davon überzeugt, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein musste. »Sonst wäre Mina in jedem Fall zur Beerdigung ihres Vaters gekommen«, sagte sie.
Bert hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme. Er ahnte, dass in dieser Familie mehr geschehen war, als es den Anschein hatte. Die Wahren Anbeter Gottes hielten sich bei den Befragungen sehr zurück. Nur manchmal ließ bei dem einen oder andern die Vorsicht nach und er lieferte Bert unabsichtlich ein weiteres Mosaikstück. Es war noch ein langer Weg bis zum fertigen Bild.
Der Chef wurde immer unleidlicher. Die Presse mäkelte am schleppenden Fortschreiten der Ermittlungen herum. Dietmar Kronmeyer war zum Guru einer sektenähnlichen Vereinigung avanciert, der die Öffentlichkeit beschäftigte wie schon lange nichts mehr.
Die Wahren Anbeter Gottes waren Gesprächsthema Nummer eins. In den Kneipen, den Büros und den Schulen, in Einkaufszentren, auf Partys und Stadtratssitzungen, überall diskutierte man Halb- und Viertelwahrheiten, die sich verbreiteten wie bei der Stillen Post.
Bert hatte den Verdacht, dass der Chef in diesem Fall nur deshalb so vehement auf rasche Aufklärung drängte, weil er verhindern wollte, dass in den sogenannten feineren Kreisen noch mehr Porzellan zerschlagen wurde, als es im Fall des Bürgermeisters bereits geschehen war. Die Journalisten konnten nämlich nicht genug davon bekommen, seine Zugehörigkeit zu den Wahren Anbetern Gottes genüsslich anzuprangern.
Das ist das einzig Schöne an der Hierarchie, dachte Bert, dass auch der Chef nicht dagegen gefeit ist, ab und zu ordentlich eins auf den Deckel zu kriegen.
Nachdem ein Foto von Mina in den Zeitungen erschienen war, hörten die Telefone nicht mehr auf zu klingeln. Ein Hinweis nach dem andern trudelte ein, wie bei jeder Ermittlung, ob sie nun einen Mord betraf, eine Entführung oder die Suche nach vermissten Personen.
Das Ermittlerteam ging den meisten dieser Hinweise akribisch nach, verfolgte jede noch so unwahrscheinliche Spur, nur um später frustriert festzustellen, dass wieder sämtliche Trittbrettfahrer des Landes aktiv geworden waren, jeder Bürger mit übertriebener Geltungssucht und alle Spaßvögel mit einem verdrehten Sinn für Humor.
Mina war angeblich auf mehreren Bahnhöfen gesehen worden. In Berlin, Stuttgart und Zürich, Schwerte, Oberhausen und Landshut, in Großstädten,
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