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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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und ließ ihre Hände kalt und schwitzig werden.
    Langsam drehte sie sich um. Es kostete sie alle Kraft.
    »Hallo?«
    Kein Laut. Keine Bewegung.
    Panisch schwang Merle sich aufs Rad und fuhr los, als wäre der Teufel hinter ihr her.
     
    Ben Bischop, schrieb Bert auf ein Blatt Papier und umkringelte den Namen mit rotem Stift. Wenn einer ihn weiterbringen konnte, dann dieser junge Mann. Er war das Zentrum von Berts Überlegungen. Von ihm führten die Wege zu den meisten anderen Personen. Das war Bert aufgefallen, als er die Notizen an seiner Pinnwand betrachtete, wie er das täglich mehrmals tat. Nachdenklich lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück, verschränkte die Hände im Nacken und kniff die Augen zusammen.
    Von hier aus wirkte die Pinnwand mit den Zetteln und Fotos wie eine etwas sonderbare Collage. Es kam Bert so vor,  als wäre sein ganzes Leben ein solches Schnipselwerk, zusammengesetzt aus den Eindrücken und Momentaufnahmen vieler Jahre, die er mehr in diesem Büro und in fremden Räumen verbracht hatte als zu Hause.
    Tilo Baumgart, schrieb er auf das Blatt Papier und umkringelte auch diesen Namen. Der Psychologe war der Schlüssel zu Mina Kronmeyer. Er besaß wesentliche Informationen über sie. Kenntnisse, über die wahrscheinlich nicht einmal Ben Bischop verfügte. Diesen beiden Menschen hatte das Mädchen sich vertrauensvoll geöffnet. Ihrem Freund und ihrem Therapeuten.
    Aber beide waren nicht bereit, offen mit Bert zu sprechen. Beide schützten Mina auf ihre Weise, der eine, weil die berufliche Ethik es verlangte, der andere aus Liebe. Wie Bruder und Schwester, hatte Marlene Kronmeyer das Verhältnis zwischen Mina und Ben beschrieben. Und stellte sich ein Bruder nicht immer vor die Schwester, die er liebte?
    Mina war von ihrem Vater misshandelt worden, auch wenn keiner der bislang Befragten diesen Begriff verwendet hatte. Ben hatte die Misshandlungen nicht verhindern können, aber er hatte sich oft selbst als Opfer angeboten. Damit Mina verschont blieb.
    »Ben war ein Leidender«, hatte Lea Gaspar bei ihrer Befragung ausgesagt. »Er ist in den Fußspuren unseres Herrn gewandelt.«
    Bert hatte nachgefragt, betroffen, entsetzt.
    »Gott bestimmt unsere Wege«, hatte sie erläutert. »Und wir dürfen nicht aufbegehren. Je mehr Leid ein Mensch auf Erden erfährt, desto größer ist die spätere Glückseligkeit im Reich des Herrn.«
    Sie war noch nicht dreißig, eine farblose, schüchterne Frau, Mutter dreier Kinder. Sie brachte keinen normalen Satz heraus. Alles, was sie sagte, klang weltfremd und abgehoben,  wie aus einer Werbebroschüre für die Zeugen Jehovas. Bert hatte in die Gesichter ihrer Kinder geschaut. Er hatte einen sehr erwachsenen Ernst darin gefunden und eine erschütternde Freudlosigkeit.
    Zufall, hatte er sich einzureden versucht. Vielleicht waren die Kinder krank. Oder müde. Doch er hatte gewusst, dass es nicht so war.
    Seufzend schob er die Papiere zusammen und rieb sich die Augen. Wie erschöpft er neuerdings war nach einem Arbeitstag. Früher hatte er zu Hause noch weitergearbeitet. Manchmal bis spät in die Nacht. Und am folgenden Morgen war er pünktlich wieder im Büro erschienen. Es hatte ihm nichts ausgemacht. Im Gegenteil. Die Einfälle waren ihm nur so zugeflogen.
    Oder war das nur eine der Legenden, die man um sein eigenes Leben spinnt? Neigte vielleicht jeder dazu, sich die Vergangenheit so zurechtzubasteln, dass er zufrieden, wenn nicht gar mit Stolz darauf zurückblicken konnte?
    Er zog das Sakko an. Bevor er für heute endgültig Feierabend machte, würde er Tilo Baumgart noch einen Besuch abstatten. Pfeifend verließ er das Büro. Den Gedanken, dass es nicht das Ende des Arbeitstags war, was ihn beflügelte, ließ er nicht an sich heran. Ebenso wenig die Frage, warum er Tilo Baumgart nicht in seiner Praxis aufgesucht hatte.
    Um diese Zeit würde er ihn woanders finden. In einer alten Mühle, die Bert nur zu vertraut war.
     
    Sie hatte sich so stark gefühlt. So unabhängig. Und hatte sich aus dem Haus gewagt. Sie konnte sich nicht ewig in einer Wohnung verschanzen, die nicht einmal ihre eigene war. Nach Licht hatte sie sich gesehnt und nach frischer Luft. Die Sehnsucht nach der Welt draußen hatte sie verrückt gemacht.  Wie unter einem Zwang hatte sie sich immer wieder vorstellen müssen, wie sich Regentropfen auf der Haut anfühlten, Sonne und Wind.
    Etwas hatte ihr gesagt, sie sei kräftig genug für einen kleinen Spaziergang.
    Oder jemand?
    Vielleicht

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