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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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war es Cleo gewesen oder Marius. Sie hatte es geglaubt. Und wenn sie ihr Gesicht hinter einer von Merles Sonnenbrillen versteckte, würde sie bestimmt niemand erkennen, hatte sie gedacht.
    Merle hatte ein Faible für Sonnenbrillen. Sie besaß sie in allen Formen, Größen und Farben. Die meisten waren für Minas Geschmack zu auffällig. Sie suchte eine schlichte schwarze Brille mit großen, sehr dunklen Gläsern aus. Mit den Fingern zupfte sie sich das Haar in die Stirn. Sie war bereit.
    Die Geräusche der Straße trafen sie mit voller Wucht.
    Ein Lastwagen hupte. Es tat Mina in den Ohren weh. Sie hastete in eine Seitenstraße, atmete tief, um ruhig zu werden. Menschen gingen an ihr vorbei. Zuerst drückte sie sich noch an die Häuserwände, um ihnen auszuweichen, doch dann merkte sie, dass das nicht nötig war. Niemand achtete auf sie. Alle waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Keinem fiel sie auf.
    Dabei war ihr Foto in der Zeitung gewesen. Sie hatte es gesehen, obwohl Jette und Merle versucht hatten, es vor ihr zu verbergen. Die Zeitung hatte schon in der Kiste mit dem Altpapier gelegen. Fast hätte Mina sich auf dem Foto gar nicht erkannt. Sie hatte schon so lange nicht mehr in den Spiegel geschaut, dass sie vergessen hatte, wie sie aussah.
    Zwei Tauben schnäbelten in einer Fensternische. Ein kleiner Junge trug stolz einen silbernen Luftballon. Vor einem Buchladen war ein alter schwarzer Hund angebunden, der kläglich winselte. Ein Fahrradfahrer kam mit quietschenden  Reifen zum Stehen. So viele Bilder. Unwirklich. Wie ausgedacht.
    Mina bemühte sich, langsam zu gehen. Obwohl sie am liebsten gerannt wäre. Weg von hier. Irgendwohin, wo es still war. Und einsam. Sie war nicht mehr an Menschen gewöhnt. Sie hatte Angst, plötzlich wieder Zeit zu verlieren und an einem Ort aufzuwachen, der womöglich noch schlimmer wäre. Es war ihr schon so oft passiert.
    Ruhig, redete sie sich gut zu. Verlier nicht die Nerven.
    Tilo hatte ihr Atemübungen gezeigt und ein paar Tricks verraten, mit denen sie eine Panikattacke vermeiden konnte. Jetzt war der Moment gekommen, es auszuprobieren. Sie richtete sich auf. Atmete in den Bauch. Behielt die Luft eine Weile in sich, bevor sie sanft wieder ausatmete.
    Und dann entdeckte sie die Katze. Ein junges Kätzchen, nicht älter als fünf Monate. Schmal und zart, hochbeinig, das Fell grau getupft. All diese Einzelheiten nahm Mina noch wahr, bevor die Panik sie überwältigte, bevor kein Atemzug mehr ihre Lungen erreichte und ein heftiger Schwindel ihren Kopf ausfüllte.
     
    Ich hatte fast den ganzen Nachmittag neben Frau Sternberg gesessen, die von einem depressiven Schub gepackt worden war und das Bett seit dem Morgen nicht verlassen hatte. Sie hatte kein Wort gesprochen, mich nur ab und zu angeschaut und dann die Augen wieder geschlossen. Zitternd vor einer Kälte, die aus ihrem Innern kommen musste, denn im Zimmer war es angenehm warm gewesen, hatte sie dagelegen, fest in die Bettdecke gehüllt.
    Sie hatte mich gebeten, ihr aus ihrem Lieblingsbuch vorzulesen, einer Sammlung der Werke von Eichendorff. Der Einband war vom häufigen Anfassen völlig zerfleddert, der Buchrücken halb abgerissen. Sobald ich zu Hause war, hatte ich mir vorgenommen, wollte ich im Internet nach einer intakten Ausgabe suchen, um sie Frau Sternberg zu schenken.
    Da unten wohnte sonst mein Lieb, die ist jetzt schon begraben, der Baum noch vor der Türe blieb, wo wir gesessen haben.
     Stets muss ich nach dem Hause sehn, und seh doch nichts vor Weinen, und wollt ich auch hinuntergehn, ich stürb dort so alleine.
    So traurig manche Gedichte auch waren, Frau Sternberg schien sich von ihnen getröstet zu fühlen. Ich hörte sie leise zur Melodie der Worte summen. Und ich hatte das Gefühl, als würde sich die alte Frau mit jeder Silbe und jedem Ton ein Stückchen weiter entfernen. Von mir, dem Heim, ihren Mitbewohnern und allem, was ihr Schmerzen verursachte.
    Irgendwann war sie eingeschlafen. Ich hatte das Buch ins Regal zurückgestellt und war auf Zehenspitzen hinausgeschlichen.
    Zu Hause empfing mich eine völlig aufgelöste Merle.
    »Mina ist verschwunden.«
    Sie setzte sich hin und sprang sofort wieder auf.
    »Verschwunden? Wie …«
    »Verschwunden eben. Weg. Abrakadabra.«
    Das war eine Katastrophe. Dabei hatten wir Tilo extra gefragt, ob wir sie gefahrlos ab und zu allein lassen konnten. Er war der Meinung gewesen, das sei kein Problem. Mina habe sich so weit gefangen, dass man ihr zwei, drei

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