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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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sich aber ab und stürzte davon, weg und weiter, irgendwohin.
    Während er rannte, hielten seine Gedanken still, deshalb lief er und lief und hörte nicht auf zu laufen, bis seine Beine so schwer wurden, dass er anfing zu stolpern. Da zwang er sich, einfach nur zu gehen, egal in welche Richtung, bloß nicht nach Hause zurück.
    Seine Verzweiflung war schwarz und kalt. Er schleppte sie mit sich und wusste, sie würde ein Leben lang in ihm bleiben.
     
    Tilo bemühte sich, nicht zu weit auszuholen, prägnante Beispiele zu nennen und die richtigen Worte zu wählen. Der Kommissar hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Ab und zu schrieb er etwas auf, nicht oft. Vielleicht war Mina die erste Multiple, mit der er persönlich in Berührung kam, aber er besaß ein Grundwissen über dissoziative Identitätsstörung. Das erleichterte die Sache.
    »Und hier«, er schob dem Kommissar eine dicke Kladde über den Tisch, »hier ist eines der Tagebücher, die Mina zur Begleitung der Therapie geführt hat. Sie werden unterschiedliche Handschriften darin entdecken. Jede dieser Handschriften gehört einer anderen Persönlichkeit. Alle Texte sind jedoch von ein und demselben Menschen geschrieben worden. Von Mina.«
    Der Kommissar nahm die Kladde in die Hand und blätterte darin. Sein Gesicht blieb unbewegt. Kein Ausruf des Erstaunens. Kein Runzeln der Stirn. Auch Cleos Rückzug hatte er kommentarlos registriert. Er hatte sich im Griff und kletterte dadurch auf Tilos Sympathieskala einige Stufen weiter nach oben.
    »Multiple schreiben nicht nur in verschiedenen Handschriften. Mit jedem Switch verändern sich ihr Aussehen und ihre Stimme. Man hat festgestellt, dass der Intelligenzquotient der  einzelnen Persönlichkeiten differieren kann und dass sogar das Muster der Hirnströme nicht einheitlich ist.«
    Der Kommissar legte die Kladde wieder hin. »Wissen die einzelnen Persönlichkeiten voneinander?«
    Tilo nickte. »Diejenigen, die sich bisher gezeigt haben, kennen einander. Sie können sich sogar untereinander verständigen. Ich vermute jedoch, dass es noch eine ganze Reihe weiterer Persönlichkeiten gibt, die zum Teil noch im Verborgenen leben.«
    »Was ist das Ziel der Therapie?« Der Kommissar betrachtete Mina, die noch kein Wort zu dem Gespräch beigetragen, sondern nur teilnahmslos aus dem Fenster gestarrt hatte. »Ist das Ziel eine Verschmelzung der Persönlichkeiten zu einer einzigen?«
    »Nicht unbedingt. Ich halte es für sehr gut möglich, dass die Einzelnen lernen, so konstruktiv zusammenzuarbeiten, dass keine der Identitäten verschwinden muss. Letztlich wird das Team die Entscheidung treffen. Wenn es so weit ist«, fügte Tilo hinzu. »Es ist noch ein langer Weg dahin.«
    Merle hatte eine Flasche Wasser und Gläser auf den Tisch gestellt. Sie hielt sich zurück, folgte dem Gespräch jedoch aufmerksam. Bei ihrer Arbeit für den Tierschutz hatte sie gelernt, Sachverhalte zu begreifen und einzuschätzen. Verwundert stellte Tilo fest, dass er stolz auf sie war.
    Er fragte sich, was seine Erklärungen beim Kommissar bewirken mochten. Und er machte sich bereits neue Sorgen. Mina war so apathisch. Das gefiel ihm nicht. Es war wichtig, dass sie die Fragen des Kommissars beantwortete. Es war noch wichtiger, dass sie sich durch ihre Antworten entlastete. Aber konnte sie das?
     

Kapitel 18
    Wie lange war er jetzt unterwegs? Acht Stunden? Neun? Ben hatte kein Gefühl für die Zeit, die vergangen war. Das Laufen hatte ihn müde gemacht. Sein Magen schmerzte vor Hunger. Doch er würde keinen Bissen runterkriegen. Schon beim Gedanken an Essen brach ihm der kalte Schweiß aus.
    Ben würgte. Obwohl nichts mehr kommen konnte. Er hatte sich bereits zweimal übergeben. Glücklicherweise nicht mitten in der Stadt, sondern unten bei den Bahngleisen, wo er allein gewesen war mit vier, fünf gurrenden Tauben und einem streunenden gelben Hund. Ihm war sterbenselend. Seine Knie zitterten vor Schwäche. Es war idiotisch, weiter herumzurennen.
    Er schlug den Heimweg ein und überlegte, wie er Marlene seine Abwesenheit erklären sollte. Noch hatte er ihr nicht verraten, dass er den Aufenthaltsort ihrer Tochter kannte. Er hatte erst sicher sein wollen, dass Mina damit einverstanden war. Sie hatte immer ein äußerst widersprüchliches Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt.
    Genau wie er selbst. Marlene war eine warmherzige, gescheite Frau, aber sie hatte es nie gewagt, gegen ihren Mann aufzubegehren. Nach jahrelangen Misshandlungen hatte sie beschlossen,

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