Der Scherbensammler
Gemütsverfassung.
»Gut. Dann fangen wir an. In welcher Beziehung standen Sie zu Max Gaspar?«
»Ich habe ihn gehasst.«
Entweder das Mädchen war ungewöhnlich ehrlich oder sie war sich des Ernstes ihrer Lage nicht bewusst.
»Aus welchem Grund?«
»Max war der verlängerte Arm meines Vaters. Er hat die Drecksarbeit für ihn erledigt.«
»Die Drecksarbeit?«
Das Mädchen nickte. »Mein Vater war kein Heiliger. Auch nicht der Racheengel, für den er sich gern hielt. Er war machtlüstern und grausam. Ein Scheusal. Und weil er nicht überall zugleich sein konnte, um seinen Willen durchzusetzen, brauchte er einen wie Max.«
Nie zuvor hatte Bert eine Tochter so über ihren toten Vater reden hören.
Was hatte dieser Mann seinem Kind angetan, um diese Feindseligkeit hervorzurufen?
»Wie würden Sie Max beschreiben?«
Sie antwortete prompt, ohne nachzudenken. »Er war auf der einen Seite ein devoter Befehlsempfänger, auf der anderen ein gemeiner Sadist. Fragen Sie Lea, seine Frau. Und seine Kinder. Er hat sie verprügelt und tyrannisiert. Niemand wird ihn vermissen.«
»Sie haben den Kontakt zu Ihrer Mutter und den Wahren Anbetern Gottes abgebrochen?«
»Ja.«
»Warum waren Sie dann in der alten Fabrik?«
Ein Flackern in ihren Augen. Die erste Unsicherheit?
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?« Bert spürte, dass sie die Wahrheit sagte. Er konnte sich das nicht erklären. »Waren Sie dort mit Max Gaspar verabredet?«
»Mit Max? Ganz sicher nicht. Ich hätte ihn niemals freiwillig getroffen.«
»Wenn das so ist, Mina, dann verstehe ich nicht …«
»Ich bin nicht Mina.«
»Wie bitte?«
»Mein Name ist Cleo.«
»Moment mal …«
»Ich bin multipel, Herr Kommissar. Das bedeutet, dass ich manche Ihrer Fragen nicht beantworten kann. Aber mit Mina und den andern ist im Augenblick überhaupt nichts anzufangen.«
Tilo Baumgart öffnete eine Tasche, holte Papiere heraus und legte sie auf den Tisch.
»Ich habe Ihnen heute Nacht nicht alles erzählt«, sagte er. »Dazu brauchte ich erst Minas Einwilligung. Ich hoffe, Sie haben Zeit. Das wird nämlich eine Weile in Anspruch nehmen.«
Ben brachte es nicht fertig, sofort nach Hause zu gehen. Er konnte Marlene in dieser Verfassung unmöglich unter die Augen treten. Die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, lief er durch die Straßen. Wenn ihn etwas beschäftigte, musste er sich bewegen, das war schon immer so gewesen. Er hatte beim Denken noch nie still sitzen können.
Es war über Nacht kalt und ungemütlich geworden. Die Kronen der Bäume hatten sich nach der Hitze der letzten Wochen bereits stark gelichtet. Die Blätter waren trocken und ausgelaugt. Es kam Ben so vor, als wäre ihre Verfärbung sonst intensiver gewesen. Da hatte es überall bunt geleuchtet. Rot. Rost. Ocker. Gold. Dieser Sommer ging irgendwie saft- und kraftlos zu Ende.
Ein hartnäckiger, regengetränkter Wind war aufgekommen und ließ die Menschen frösteln. Sie hatten die Kragen hochgeschlagen und die Mäntel bis zum Hals zugeknöpft. Missmutig hetzten sie durch die Straßen, auf dem Weg zu einem Treffen, zu Einkäufen oder zu einem Arzttermin. Ein Betrunkener saß in der Fußgängerzone auf dem nass glänzenden Boden, einen Pappbecher von McDonald’s zwischen den Füßen. Er lallte Beschimpfungen. Eine Münze fiel klappernd in den Becher.
Ben machte einen Bogen um die Liebespaare, die ihm überall im Weg zu sein schienen. Er ertrug ihre glücklichen Gesichter nicht. Ihr Flüstern. Und erst recht nicht ihre Küsse. Ihm war danach, sein Elend hinauszuschreien. Seine Welt war komplett in sich zusammengefallen.
Warum?, dachte er. Warum? Warum? Warum?
So war es, wenn das, was dem Leben Sinn verliehen hatte, sich plötzlich in Luft auflöste. Wenn alles, woran man je geglaubt hatte, wie ein Traum zerplatzte. Man fühlte sich wund. Jeder Knochen tat einem weh.
Wie sie mit ihm geredet hatte. So von oben herab, so grob. Ihre Worte kreisten in seinem Kopf.
Du hast ausgedient.
Ich empfinde nichts für dich. Weniger als nichts.
Kapier das endlich.
Und dann ihr Lachen.
Ben schluchzte auf. Er konnte nichts dagegen tun. Sein Hals brannte von den Tränen, die er unterdrückte. Ihm war schlecht. Er schwankte und stützte sich an einer Schaufensterscheibe ab. Eine Frau blieb bei ihm stehen, beladen mit Einkaufstüten.
»Fehlt Ihnen was, junger Mann?«
Er brachte kein Wort heraus, obwohl sie so freundlich war und so besorgt. Er wollte sie nicht brüskieren, wandte
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