Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Die Nacht mit ihren Kindern: Schlaf und Tod. Genau wie auf der Postkarte, nur mit so vielen Details, dass die Flügel des Engels fast naturgetreu wirkten. Wie Taubenflügel mit weichen, leicht gebogenen Formen. Die Augen des Engels waren geschlossen. Er hielt die kleinen, rundlichen Kinder fest in seinen Armen. Es muss Jahre gedauert haben, so etwas zu erschaffen, dachte Niels.
Hinter sich hörte er Schritte. Er blickte zu Boden und ging in die andere Richtung. Dann warf er einen Blick über die Schulter und sah einen jüngeren Mann mit Tonsur. Ziemlich ungewöhnlich und deplatziert. Aber auch er trug einen Anzug und hatte ein Namensschild um den Hals. Das musste der Mann sein. Niels war sich plötzlich sicher. Der Mann mit der Tonsur blieb in der Galerie stehen, bis die Führerin auftauchte.
»Dieses Relief heißt Natten med sine børn und ist eines der berühmtesten Werke Thorvaldsens«, sagte sie in ihrem feinen Englisch mit Untertönen aus Oxford oder Cambridge. »Haben Sie eine Idee, wer die Kinder der Nacht sind?«
Die Gäste sahen sich an. Sie waren es nicht gewohnt, derartige Fragen gestellt zu bekommen.
»Die Kinder der Nacht? Hat jemand eine Idee?«, fragte die Führerin herausfordernd. Der Mann war noch immer da.
»Sleep«, sagte einer in der Versammlung.
»Yes, that’s right«, sagte sie und fuhr fort: »Der Schlaf ist das eine der Kinder der Nacht. Hypnos auf Latein. Das andere ist ein bisschen unangenehmer.«
Niels dachte an den Philosophen Vartov. An das, was Sokrates gesagt hatte. So wie der Schlaf durch die Wachphasen abgelöst wurde, war es auch mit dem Tod. Er wurde zu Leben.
»Anybody?«
Jetzt sag es doch, dachte Niels. Er hoffte, dass sie endlich verschwanden.
»Der Tod. Das andere Kind ist der Tod. Thanatos. Schlaf und Tod«, sagte sie. Niels sah die Neugier in ihren Gesichtern. So sieht also der Tod aus? Wie ein schlafendes Kind mit runden Wan gen und dicken Schenkeln?
»Man weiß es nicht mit Sicherheit, aber einige meinen, die Arbeit an dem Relief sei Thorvaldsens Versuch gewesen, die Trauer über den Verlust seines fünfjährigen Jungen Carlo Al berto zu verarbeiten. Was wir wissen, ist, dass er dieses Relief für einen dänischen Admiral gemacht hat, der seine Frau Cecilie verloren hatte und ihr ein besonders schönes Grab schenken wollte.«
Am Südwesteingang stand jetzt ein Mann mit einer dunklen Sonnenbrille. Oder bildete Niels sich das bloß ein? Nein, der Mann sah wirklich so aus, als würde er ungeduldig warten. Niels verschwand hinter einer Säule. Die Führerin zwitscherte weiter: »Das Original, das Thorvaldsen Cecilie zu Ehren gemacht hat, hängt an einem anderen Ort.«
Niels blickte auf.
»Es hängt in der Holmenskirche. Gleich hier am Kanal. Wir kommen daran vorbei, wenn wir hier fertig sind.«
Niels unterbrach sie. »Entschuldigung.«
Sie drehte sich um, das Lächeln verschwand, und ihre Augenbrauen krümmten sich wie der Rücken einer Katze.
» Natten med sine børn, dieses Relief da«, sagte Niels und streckte den Arm aus. »Haben Sie gerade gesagt, dass das echte Relief in der Holmenskirche hängt?«
***
16.04 Uhr
Niels sah die Kirche von dort, wo er stand. Vielleicht kam er zu spät, das Treffen konnte längst vorbei sein. Er lief quer über den Schlossplatz, vorbei an der Reiterstatue und einer Busladung japanischer Touristen, die ihre Köpfe in den Nacken gelegt hatten und blinzelnd zur Spitze des Denkmals aufblickten. Am Eingang der Kirche stand niemand, das sah er gleich. Er überquerte die Straße, wenig Verkehr, ein paar Fahrräder, Mädchen mit offenen Haaren. Niels bemerkte den Mann erst, als er in ihn gelaufen war.
»Mann, was machen Sie denn?«
Der Mann packte Niels, als die Tür der Kirche aufging und ein junger Mann mit Baseballcap und Sonnenbrille herauskam. Eine seiner Hände steckte in seiner Hosentasche. Niels zog seinen Arm zu sich und wollte weiterlaufen, aber der Idiot hielt ihn fest.
»Sie könnten sich doch wenigstens entschuldigen!«
Niels rammte ihm die Faust in den Bauch und murmelte »Polizei«, bevor er weiterrannte. Jemand rief ihm etwas nach. Es war ihm egal. Früher hätte er niemals so reagiert – niemals. Jetzt wäre er am liebsten noch einmal zurückgekehrt und hätte weitergemacht.
Der junge Mann mit Baseballcap und Sonnenbrille hatte es nicht eilig, und es gab keinen Grund, weshalb er Niels bemerken sollte. An der Ampel blieb Niels stehen. Der Mann ging zu Fuß in Richtung Brücke, nachdem er sich eine Zigarette
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