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Der schlafende Engel

Der schlafende Engel

Titel: Der schlafende Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia James
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wunderschön?«
    Zwischen den Wolken hatte sich eine Lücke gebildet, sodass der Mond eine steinerne Skulptur erhellte. Es war ein Engel, doch im Gegensatz zu den zahlreichen geflügelten Geschöpfen auf den anderen Gräbern lag er, scheinbar in friedlichem Schlummer, auf seinem steinernen Bett.
    »Der Schlafende Engel?«, fragte April. »Ja, er ist …«
    »Ekelhaft«, spie Chessy. »Kitschig, sentimental und geschmacklos.«
    April sah sie stirnrunzelnd an.
    »Wieso hast du mich hergebracht, wenn du die Statue so sehr hasst?«
    »Weil das hier mein Grab ist, April Dunne.«
    »Dein … was?«
    April wandte sich Chessy zu, die die Grabstätte mit einem liebevollen Lächeln betrachtete, als ruhe jemand darin, der ihr sehr am Herzen lag. In diesem Moment fielen ihr die Worte des Grabpflegers während der Besichtigungstour wieder ein. Das Grab gehöre einem Mädchen namens Francesca, hatte er gesagt.
    »Deines?«
    »Meines.«
    »Aber du …«
    »Ich lebe? Messerscharf beobachtet. Kein Wunder, dass du den Posten als Schulsprecherin bekommen hast.«
    April starrte Chessy verblüfft an. So verrückt es sich auch anhören mochte, hatte sie keinen Grund, ihr nicht zu glauben.
    »Aber wer bist du dann … wer warst du?«
    »Francesca Mariana Bryne«, sagte sie mit einem angedeuteten Diener. »Geboren im County Antrim, während der Großen Hungersnot mit meinen Eltern nach London gekommen und mit acht Jahren ausgesetzt worden, nachdem mein Vater sich zu Tode gesoffen hatte und meine Mutter keine fünf Kinder allein durchbringen konnte.«
    »Wie hast du überlebt?«
    »Auf alle möglichen Arten, die man sich nur vorstellen kann«, antwortete sie. »Stehlen, Lügen, Betrügen, und als ich alt genug war, habe ich es mit Männern in den Gassen getrieben. Ich kann nicht behaupten, dass sich seitdem viel verändert hat.«
    »Aber ich verstehe immer noch nicht, weshalb dieser riesige Grabstein hier steht. Wenn du doch gestorben bist …«
    »Ich bin zweimal gestorben. Solltest du auch mal probieren.« Ein wehmütiger Unterton schlich sich in ihre Stimme, wie bei einer alten Frau, die an ihre skandalösen Jugendjahre zurückdenkt. Was sie in gewisser Weise auch tat, vermutete April. »Oh, ich war keine dieser billigen Nutten, die gerade genug Freier machen, um ihren Kummer danach mit einem Glas Gin hinunterspülen zu können. Nein, ich hatte reiche Kunden, die zu mir ins Zimmer kamen. In wunderschöne Zimmer in St. James’s. Politiker, lauter feine Herren. Aber bei einem dieser ehrwürdigen Gentlemen habe ich mir Syphilis geholt. Die bringt dich ganz langsam um. Aber er war nett und meinte, er würde sich um mich kümmern. Natürlich hat er mich nicht zu einem Arzt gebracht hat, oh nein. Dafür hat er dieses Ungetüm in Auftrag gegeben. Zum Gedenken an mich und all die anderen ›gefallenen Frauen‹, ein Mahnmal seiner Schuld.«
    Trotz der Gefahr, in der sie schwebte, konnte April nicht leugnen, dass sie Chessys Geschichte faszinierte.
    »Und was ist dann passiert?«
    »Oh, das mag kleinlich von mir gewesen sein, aber ich wollte mich nicht damit zufriedengeben, einfach den Löffel abzugeben und ein sentimentales Symbol für die Rechtschaffenheit und Heuchelei der Upperclass zu werden. Also habe ich mich ins Bead’s Head, eine Taverne in South Bank, geschleppt. Wir alle wussten auch damals schon, dass es sie gibt, die ›Dunklen‹, wie wir die Blutsauger damals nannten. Den Begriff Vampir nahm damals keiner in den Mund. Das war viel zu … sonderbar. Deshalb habe ich eine Vereinbarung mit ihnen getroffen. Sie verwandeln mich, und dafür beschaffe ich ihnen … na ja, gewisse Dinge, die für sie interessant waren. So ist es mir gelungen, nicht in diesem Grab zu landen. Natürlich war es ein Kinderspiel, eine Ersatzleiche aufzutreiben, und seine Lordschaft war viel zu empfindlich, um nachzusehen, wer in diesem Sarg liegt.«
    »Also wurde einfach eine andere Leiche begraben?«, fragte April.
    Chessy nickte.
    »Natürlich habe ich dem Begräbnis beigewohnt. Danach bin ich dem Lord nach Hause gefolgt und habe seine Frau getötet«, sagte sie fast beiläufig, als wäre es eine amüsante Anekdote. Dann trat sie vor die Skulptur und strich mit der Hand über ihre vom Mondschein erhellten Konturen.
    »Jahrelang habe ich dieses Ding gehasst. Aber jetzt finde ich es plötzlich sehr passend, geradezu prophetisch für unsere neue Welt, findest du nicht auch? Wir alle sind schlafende Engel, oder nicht? Und heute Nacht erwachen wir.«
    »Du bist

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