Der schlafende Engel
besteht der dringende Verdacht, dass hier eine Art Opferritual vollzogen wurde.«
»Ein Opferritual?«, echote April. »Sprechen Sie von einem menschlichen Opfer?«
»Nein, das nicht. Aber wir haben die Leichen mehrerer Füchse am Tatort gefunden.«
Aprils Herz zog sich zusammen. Auch an jenem ersten Abend, als Isabelle Davis getötet worden war, hatte ein toter Fuchs auf dem Friedhof gelegen, oder nicht? Offenbar hatte Silvia Aprils erschrockene Miene bemerkt.
»Trotzdem sind wir hier nicht bei Der Exorzist , nur weil ein paar tote Tiere herumliegen, Inspector«, sagte sie.
»Das nicht, aber wir müssen alle Faktoren in Betracht ziehen.«
Er zog ein weiteres Foto heraus, das den Spruch auf dem Vladescu-Familiengrab zeigte.
»Sagen dir diese Worte über der Tür – omnes fures mori – etwas? ›Alle Diebe sterben‹ lautet die Übersetzung. Klingelt da etwas bei dir, April?«
Sie schüttelte den Kopf und starrte zu Boden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, so heftig, dass Inspector Reece es bestimmt mitbekam. Natürlich »klingelte da etwas«. Fures, furem, furie . Das war sie . Der Begriff »Furie« stammte aus dem Lateinischen und war von zornigen Vampiren in der Zeit der Eroberung durch die Römer erfunden worden. Das hatte Marcus Brent ihr in jener Nacht im Waterlow Park an den Kopf geworfen, während sich seine abscheulichen dürren Klauen um ihren Hals geschlossen hatten. Es war ein Begriff voller Verachtung und Ekel und besagte, dass Furien wie sie nichts als gemeine Diebinnen waren, auf die Erde gesandt, um den Vampiren ihr kostbares dunkles »Licht« zu stehlen. So etwas in dieser Art. Offen gestanden war sie zu beschäftigt mit dem Kampf um ihr Leben gewesen, um einer tiefergehenden Geschichtslektion zuzuhören.
Reece musterte sie forschend.
»Ganz sicher?«
»Natürlich ist sie sicher«, warf Silvia ein. »Glauben Sie etwa, wir enthalten Ihnen irgendetwas vor? Wir wollen doch nur die sterblichen Überreste meines Mannes zurückhaben.«
Der Polizist erhob sich nickend.
»Ja, natürlich. Und ich versichere Ihnen, dass wir alles daran setzen werden, seine Leiche zu finden und dorthin zurückzubringen, wo sie hingehört.«
»Mir versichern ?«, wiederholte Silvia. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich Ihnen nach allem, was passiert ist, auch nur ein Wort glaube, Inspector.«
»Mum …«
»Nein, ist schon gut, April«, wandte sich der Polizist beschwichtigend an April. »Mir ist durchaus bewusst, dass keiner von Ihnen Anlass hat, der Polizei noch zu vertrauen, aber wir werden die Leiche Ihres Mannes finden, Mrs Dunne. Das steht an oberster Stelle, denn ich bin der festen Überzeugung, dass es einen Zusammenhang zwischen all den Vorfällen gibt.«
Wieder sah er April an.
»Die Angriffe, die Todesfälle, sogar der Vandalismus. Meiner Meinung nach hängt das alles zusammen. Und wir werden herausfinden, wie.«
»Und zwar lieber früher als später, Inspector. Ich brauche Sie ja wohl nicht daran zu erinnern, dass meine Familie mehrfach angegriffen wurde.«
»Nein, Mrs Dunne, das brauchen Sie nicht. Bitte, bleiben Sie sitzen. Ich finde schon selbst hinaus.«
April hörte die Haustür ins Schloss fallen, nahm ihre Jacke und wandte sich zum Gehen. Sie fühlte sich in diesem Haus einfach nicht wohl.
»Bitte, bleib doch, Schatz«, sagte Silvia und trat zu ihr. »Wir sollten dringend miteinander reden.«
»Es gibt nichts zu reden.«
»Die Leiche deines Vaters wurde gestohlen, April. Hast du denn gar nichts dazu zu sagen?«
»Natürlich habe ich das! Es ist abscheulich, widerwärtig, und es bricht mir das Herz, aber das ändert rein gar nichts, Mum. Es ändert nichts an dem, was du getan hast, Mum, und auch nichts daran, wie ich darüber denke.«
Hatte Silvia allen Ernstes geglaubt, sie würde zusammenbrechen und sich in ihre Arme werfen? Vielleicht hätte sie vor einem halben oder einem Jahr so reagiert, doch seitdem hatte sich zu vieles verändert. April hatte sich verändert.
»Bitte, April, ich meine es ernst«, sagte Silvia und hielt inne. »Bitte.«
Seufzend ließ April ihre Jacke auf den Stuhl fallen. »Fünf Minuten«, sagte sie, setzte sich widerstrebend hin und sah zu, wie ihre Mutter erneut den Wasserkessel aufsetzte. Kannte man die tragischen Umstände nicht, hätte man die Szenerie für einen gewöhnlichen Familienalltag gehalten: Mutter und Tochter setzen sich bei einer Tasse Tee zum Plaudern an den Küchentisch. Doch das war lange her. Ein Relikt aus einer anderen Welt,
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