Der schlafende Engel
Mutter hin und her. Silvia starrte ihn finster an, wohingegen sich April sichtlich unwohl in ihrer Haut fühlte. Seit der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter am Morgen nach dem Brand hatte April keinen Fuß mehr in das Haus am Pond Square gesetzt. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie sogar kein Wort mehr mit ihr gewechselt hatte, doch DI Reece hatte darauf bestanden, mit ihr und ihrer Mutter gemeinsam zu sprechen. Also stand April mit vor der Brust gekreuzten Armen im Türrahmen, sorgsam darauf bedacht, ihr nicht in die Augen zu sehen, und versuchte, Reece mittels Willenskraft dazu zu bringen, zum Ende zu kommen.
»Sie haben sie nicht ernst genommen«, wiederholte Silvia mit eisiger Stimme.
April kannte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nur allzu genau: Silvia war fuchsteufelswild. Und ausnahmsweise konnte sie ihr deswegen keinen Vorwurf machen.
»Was genau fällt denn bei Ihnen unter den Begriff ernst ?«, bohrte sie weiter. »Ich vermute, dafür müsste schon jemand ermordet worden sein, ja? Oder sollte ich vielleicht eher › wieder‹ sagen? So arbeitet die Polizei heutzutage also? Einfach abwarten, bis jemand stirbt, und dann in aller Seelenruhe die Ermittlungen aufnehmen?«
Silvia Dunnes Stimme war leise und gefasst, aber April kannte ihre Mutter. Sie war wie eine Handgranate mit gezogenem Sicherheitsstift – sie konnte jederzeit und ohne Vorwarnung hochgehen. Vielleicht witterte Detective Reece die Gefahr und sprach deshalb in betont beschwichtigendem Tonfall.
»Ich verstehe, welchen Eindruck Sie von unserer Arbeit haben müssen, Mrs Dunne, aber Sie haben ja selbst gesehen, dass wir in den letzten Wochen mit erheblich ernsteren Vorfällen zu kämpfen hatten. Sie haben vollkommen recht; es wurden tatsächlich Menschen getötet, und genau auf diese Ermittlungen haben wir sämtliche verfügbaren Einsatzkräfte angesetzt.«
»Ach, tatsächlich?«, ätzte Silvia. »Und wie kommen Sie mit diesen Ermittlungen voran? Haben Sie herausgefunden, wer meinen Mann getötet hat? Ist es Ihnen gelungen, meine Familie vor weiteren Übergriffen zu schützen? Für mich sieht es nämlich ganz so aus, als tue die Metropolitan Police rein gar nichts, um zu verhindern, was hier in Highgate geschieht.«
Unter normalen Umständen hätte April beim Anblick von Mr Reeces Hilflosigkeit Mitleid bekommen. Immerhin hatte er stets auf ihrer Seite gestanden, aber heute war sie genauso wütend über die Inkompetenz der Polizei wie ihre Mutter.
»Wie konnten sie das zulassen, Mr Reece?«, fragte sie. »Er ist mein Dad! Wie konnten sie zulassen, dass seine Leiche aus unserem Familiengrab gestohlen wird? Schlimm genug, dass ich …« Ihre Stimme verklang. Schlimm genug, dass ich mit ansehen musste, wie er stirb t. Es ärgerte sie, dass sie vor ihrer Mutter so die Fassung verlor. Schlimm genug, dass ich sein Blut an meinen Händen hatte, schlimm genug, dass er mir so gewaltsam entrissen wurde . Und nun war es, als würde sie ihn ein zweites Mal verlieren.
»Leider hat es die hiesige Polizei, die den Fall aufgenommen hat, versäumt, die Unterlagen an die Kriminalpolizei weiterzuleiten«, erklärte DI Reece. »Sie dachten, es sei bloß eine Horde Jugendlicher gewesen, die Alkohol getrunken und ein bisschen herumgeblödelt hätten.«
»Jugendliche?«, schnauzte Silvia ihn an. »Das glauben Sie also …«
DI Reece hob die Hand, aber Silvia hatte sich bereits in Rage geredet.
»Jugendliche, Herrgott noch mal!«, stieß sie hervor. »Tut mir leid, aber das ist doch kompletter Schwachsinn, Inspector. Ich habe diese Tür mit eigenen Augen gesehen, die tiefen Dellen, obwohl sie aus Eisen besteht. Das waren keine betrunkenen Jugendlichen. Niemals!«
»In diesem Punkt stimme ich Ihnen zu«, erklärte Reece, zog seine Aktentasche unter dem Tisch hervor und nahm ein paar Fotos heraus, die er vor ihnen ausbreitete. April und ihre Mutter beugten sich darüber und nahmen sie in Augenschein.
»Zum Glück war Miss Leicester geistesgegenwärtig genug, Fotos von den Beschädigungen an den Grabsteinen zu machen«, sagte er. »Und … wie Sie sehen, ist ein gewisses rituelles Muster erkennbar.«
April starrte auf die Fotos. Auf den Gräbern prangten Symbole, und jemand hatte Sprüche auf dem Boden hinterlassen. Es sah ganz so aus, als wäre es …
»Ist das etwa Blut ?« April deutete auf einen dunklen Fleck auf einem der zerstörten Grabsteine.
»Ich fürchte, ja«, antwortete Reece. »Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen, aber es
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