Der schlafende Engel
lebendig wurde.
»Ich gehe jetzt besser«, sagte sie und nahm ihre Jacke. »Grandpa macht sich bestimmt schon Sorgen.«
»Können wir denn nicht wie erwachsene Menschen darüber reden, April?« Ein flehender Unterton lag in Silvias Stimme, als sie sich April wieder zuwandte. »Ich will, dass du verstehst, was mit deinem Vater passiert ist, und mit Robert und …«
»Nein, Mum!«, schrie April. »Ich will darüber nicht reden. Ich bin nicht hergekommen, um dir zu helfen, deine Probleme in den Griff zu bekommen. Sondern weil ich wissen wollte, was Inspector Reece zu sagen hat. Ich bin fertig mit der ganzen Sache, endgültig.«
»Und bist du auch mit mir fertig?«, fragte Silvia leise. Bei ihrem Anblick blutete April das Herz – ihre Mutter schlug sich die Hände vors Gesicht und begann haltlos zu schluchzen, während April dastand und zusah, wie ihre Schultern bebten. Plötzlich überkamen sie schwere Gewissensbisse. Sie hatte Silvia einfach ihrem Schicksal überlassen, und wie sie sie kannte, ertränkte sie seither jeden Abend ihren Kummer im Alkohol; und auch wenn sie es verdient hatte, in ihrem eigenen Saft zu schmoren, musste April zugeben, dass sie nicht gerade eine Vielzahl an fürsorglichen Freunden hatte, die ihr in diesen schweren Zeiten zur Seite standen. Silvia tänzelte zwar von einer schicken Dinnerparty zur nächsten, doch die Leute, die sie dort kennenlernte, standen in Krisenzeiten ganz bestimmt nicht vor der Tür, um einem Unterstützung anzubieten.
»Nein, Mum, ich bin nicht fertig mit dir«, sagte April, trat zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich muss nur eine Weile allein sein. Das verstehst du doch bestimmt, oder?«
Silvia schniefte. »Vermutlich liegt es nur daran, dass ich mir solche Sorgen mache, weil du so weit weg bist. Ich will …« Wieder schluchzte sie laut. »Oh Gott, wie konnten sie ihn uns nur ein zweites Mal wegnehmen?«
April rieb Silvias Arme. »Wir bekommen ihn zurück, da bin ich mir ganz sicher«, sagte sie.
Silvia löste sich von ihr und schnäuzte sich lautstark.
»Tut mir leid, Schatz, es ist nur … ich fühle mich nachts so allein in diesem großen Haus, all die Geräusche, das Knarren. Und ständig drücken sich irgendwelche Leute vor dem Haus herum und versuchen, durchs Fenster zu sehen …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist idiotisch.«
April sah sie scharf an.
»Leute am Fenster? Wieso hast du das Inspector Reece nicht erzählt?«
»Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten, und ich bilde es mir nur ein. Bestimmt sind es ganz normale Leute, die abends mit ihrem Hund Gassi gehen. Wenn man ganz allein ist, kommt man auf die absurdesten Ideen.«
Wieder verspürte April Gewissensbisse. Beobachtete jemand das Haus? Hatte es jemand auf ihre Mutter abgesehen? Ja, zugegeben, sie war wütend auf Silvia, aber ganz bestimmt nicht so sehr, dass sie ihr den Tod wünschte. Allein bei der Vorstellung wurde ihr speiübel.
»Das hier führt doch zu nichts, Mum. Bei Grandpa geht es mir gut, er kümmert sich um mich. Lass mir einfach ein bisschen Freiraum, okay?«
»Freiraum, damit du in Ruhe mit deinem Freund zusammen sein kannst, ja?«, sagte Silvia vorwurfsvoll.
April starrte sie wütend an.
»Siehst du? Deshalb kann ich nicht hierbleiben. Gabriel ist ein anständiger Mann, das weißt du ganz genau. Er war für mich da, und ich dachte, du wärst ihm dankbar dafür.«
Silvia sah sie an.
»Alle Männer haben Hintergedanken. Ich sollte das ja wohl am besten wissen.«
»Vielleicht ist Gabriel aber nicht so wie die Männer, mit denen du dich einlässt.«
Kaum war sie weich geworden und hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, doch wieder nach Hause zurückzukehren, zeigte Silvia erneut ihr wahres Gesicht. Sie schnappte ihre Jacke und machte sich auf den Weg zur Tür. Wenn die Blutsauger tatsächlich nach der Furie suchten – und so ungern sie es auch zugab, aber wenn Benjamin und Marcus ihr auf die Schliche gekommen waren, war es eine reine Zeitfrage, bis auch die anderen eins und eins zusammenzählten –, brachte sie Silvia in nur noch größere Gefahr, solange sie sich in Highgate aufhielt. Ihre Mutter konnte sich zwar wie eine Furie gebärden, wenn man sie ärgerte, aber mal im Ernst – was könnte eine scharfzüngige Witwe schon gegen eine Armee der Finsternis ausrichten, die sich vor ihrer Haustür zusammenrottete. Auch wenn Silvia eine noch so Furcht einflößende Frau mit einem ausgeprägten Instinkt sein mochte, ihr einziges Kind zu
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