Der schlafende Engel
bevor April festgestellt hatte, dass ihr alltägliches, sterbenslangweiliges Leben plötzlich von gruseligen Kreaturen mit langen Zähnen und scharfen Klauen verseucht war. Als ihr bewusst wurde, dass durch nichts, was ihre Mutter sagte oder tat, die Sicherheit ihres alten Lebens zurückkehren würde, überkam sie eine tiefe Traurigkeit.
»Du fehlst mir so«, sagte Silvia. »Wieso kommst du nicht zurück? Dein Zimmer ist immer für dich hergerichtet …«
»Oh nein«, unterbrach April. »Nicht wieder dieses Thema. Wenn du über das reden willst, was mit Dad passiert ist, von mir aus, aber fang nicht wieder damit an. Du weißt ganz genau, wieso ich nicht mehr hier wohne.«
»Nein, April, das tue ich nicht«, sagte Silvia und sah sie an. »Ich verstehe es nicht.«
Erstaunt stellte April fest, wie wütend sie war.
»Weil du mich angelogen hast«, schrie sie. »Weil du Dad angelogen hast. Und weil du eine Affäre mit einem Mann verschwiegen hast, der mich umbringen wollte. Reicht das etwa nicht?«
»Schon gut, schon gut. Ich bin vielleicht nicht die Supermutter …«
»Die Supermutter? Du hast ja nicht mal richtig versucht, eine Mutter zu sein. Wann verhältst du dich jemals wie eine Mutter? Ich kann mich nicht erinnern, dass du mir je ein Pausenbrot geschmiert, mir bei den Hausaufgaben geholfen oder mich abends ins Bett gebracht hast.«
»Aber das habe ich doch!«
»Nein. Dad hat all das getan. Du bist nicht mal zu Schulaufführungen gekommen.«
Silvia runzelte die Stirn. »Aber da gab es doch einmal dieses Krippenspiel. Warst du nicht die Maria?«
»Das war Sophie, die Tochter deiner Freundin Amanda«, stieß April mit zusammengepressten Lippen hervor. »Du hast dir ihre Schulaufführung angesehen, weil sie in irgendeiner schicken Privatschule stattfand, wo du hinterher bei Cocktails wichtige Leute kennenlernen konntest.«
»Na gut, dann bin ich eben eine Rabenmutter.« Silvia kreuzte die Arme vor der Brust. »Deine Meinung über mich steht offenbar fest. Aber auch wenn du mich noch so sehr hasst, ändert das nichts an meinen Gefühlen für dich, April. Ich liebe dich. Und ich will, dass du in Sicherheit bist.«
»Und wie willst du das anstellen? Indem ich wieder hier einziehe? Dad hat es ja auch herzlich wenig genützt, oder?«
»Das ist nicht fair«, sagte Silvia.
»Nein? Aber du hast doch Mr Reece gerade eben an den Kopf geworfen, die Polizei hätte keine Ahnung, was in Highgate vorgeht, und würde es nicht schaffen, mich zu beschützen. Oder sonst jemanden. Wie kommst du also auf die Idee, dass du das ausgerechnet bewerkstelligen kannst, wenn ich wieder hier wohne?«
»Ich würde niemals zulassen, dass dir jemand etwas tut«, stieß Silvia aufgebracht hervor.
»Ach ja? Das hast du bisher ja richtig gut hinbekommen.«
Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, bereute April sie bereits. Sie sah, wie ihre Mutter zurückwich, als hätte sie sie geohrfeigt.
»So habe ich es nicht gemeint«, sagte sie, doch Silvia wandte sich kopfschüttelnd ab.
Super, jetzt bin ich wieder das Miststück , dachte April.
Doch seltsamerweise hatte sie es Silvia nie übel genommen, dass sie nicht die typische Vorzeigemutter gewesen war, die sich gern hübsch anzog und Kuchen backte. Silvia war einfach, wie sie war, egoistisch und ohne jedes Verantwortungsgefühl, und ihre Unzulänglichkeiten waren ganz bestimmt nicht der Grund, weshalb April ausgezogen war. Schuld waren allein ihr Verhalten und, allem voran, ihre ewigen Lügen.
»Könntest du doch nur verstehen, wie schwer das alles für mich war.« Silvia tupfte sich die Augen trocken.
»Schwer? Für dich?«, fragte April. »Mal ganz ehrlich, Mom. Du bist doch selber schuld daran.«
Ein Wortgefecht über die Untreue ihrer Mutter war so ziemlich das Letzte, wonach April im Augenblick der Sinn stand, doch seit jener Nacht in Sheldons Haus hallten seine Worte ständig in ihren Gedanken wider: »Jetzt, wo sie mitbekommen hat, wer die Fäden wirklich in der Hand hält, kommt sie wieder an wie eine läufige Hündin.«
Silvia hatte immer steif und fest behauptet, der Umzug nach London sei Williams Idee gewesen, zu der sie sich lediglich unter Protest hätte breitschlagen lassen. Aber Sheldon hatte nur gelacht und gemeint, Silvia hätte ihren Vater überredet, nach London zu kommen, und ihn, Sheldon, förmlich angefleht, eine Affäre mit ihr zu beginnen. Und obwohl April die Wahrheit gern kennen würde, war ihr doch bewusst, dass ihr Vater davon auch nicht wieder
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