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Der schlafende Engel

Der schlafende Engel

Titel: Der schlafende Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia James
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Todesfall in der Familie, das gibt es doch nur im Fernsehen, oder es passiert anderen Leuten. Schon bei Milos Tod war meine Mom völlig fertig. Ich habe keine Ahnung, wie sie das jetzt verkraften soll.«
    Sie blieben am Ufer des Sees stehen. Abgesehen von einer Handvoll Enten, die, wahrscheinlich in der Hoffnung auf ein Stück Brot von den netten Menschen, angeschwommen kamen, waren sie ganz allein.
    »Und wie geht es dir mit all dem?«
    »Oh, mir geht’s gut.« Davina winkte ab. »Diese Frage stellen mir die Leute ständig, aber sie haben keine Ahnung, wie so etwas ist.«
    »Ich schon.«
    Davina nahm Aprils Hand. »Oh Gott, bitte entschuldige. Dieser Polizeiinspektor, wie heißt er noch mal? Reece? Er hat uns erzählt, was Ben dir antun wollte. Wahrscheinlich willst du es lieber nicht hören, oder?«
    »Doch. Ist schon okay. Ehrlich.«
    Davina zupfte ein paar Beeren von einem Strauch ab und warf sie den Enten hin, die jedoch keinerlei Interesse daran zeigten.
    »Es ist schon komisch«, fuhr sie fort. »Man betrachtet die eigene Familie immer als Selbstverständlichkeit, oder? Man lebt unter einem Dach, und die meiste Zeit gehen sie einem einfach bloß auf den Wecker, nach dem Motto ›tu dies‹, ›tu jenes‹, ›räum dein Zimmer auf‹. Der reinste Albtraum.«
    April verkniff sich ein Lächeln. Sie hatte Davinas Zimmer schon einmal gesehen – ein wunderschöner Raum mit einem makellosen weißen Teppich und erlesenen Möbeln, als wäre gerade das Foto-Team für die Einrichtungsstrecke der neuesten Vogue da gewesen. Deshalb konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich jemand darüber beschwerte, weil Davina nasse Handtücher im Bad herumliegen ließ.
    »Und trotz allem weiß man, dass sie immer da sein werden, stimmt’s? Ben war pausenlos da, hat mich als Diva oder als taube Nuss beschimpft, all diese Gemeinheiten, die Brüder ihrer großen Schwester eben an den Kopf werfen. Und wie oft habe ich mir gewünscht, dass er einfach tot ist …«
    Sie kämpfte gegen einen Schluchzer an und zog ein weiteres Papiertaschentuch aus ihrer Tasche.
    »Und dann ist er tatsächlich auf einmal tot«, fuhr sie fort und sah April aus tränennassen Augen an. »Plötzlich ist er tot.«
    April konnte nur stumm nicken und sie ungelenk in die Arme nehmen. Davina hatte keine Ahnung, dass Aprils Blut ihren Bruder getötet hatte, und sie konnte nur hoffen, dass sie es niemals erfahren würde.
    Davina holte tief Luft. Die beiden wandten sich vom Ufer ab und gingen weiter.
    »Ich habe gehört, dass du bei deiner Mutter ausgezogen bist.«
    »Stimmt. Ich wohne jetzt bei meinem Großvater.«
    »Der Palast in Covent Garden ist doch sowieso viel glamouröser als euer winziges Häuschen am Pond Square.«
    Das war ein typischer Davina-Satz: gedankenlos, oberflächlich und vorschnell in ihren Urteilen. Doch nichts an ihrem Tonfall erinnerte an ihre gewohnte Vampirarroganz; stattdessen klangen ihre Worte hohl und trübselig. Sollte sie es darauf anlegen, Aprils Mitleid zu erregen, war sie eine verdammt gute Schauspielerin.
    »Aber sei nicht zu streng mit ihr«, fuhr Davina fort. »Mit deiner Mutter, meine ich. Es ist nicht so leicht, etwas Bestimmtes zu sein und dann so tun zu müssen, als wäre man …« Sie ließ ihre Stimme verklingen.
    April runzelte die Stirn.
    »Etwas Bestimmtes zu sein? Was meinst du damit?«
    Davina schüttelte den Kopf. »Ich meine nur, du solltest froh sein, dass du sie noch hast. Mag ja sein, dass sie dich in den Wahnsinn treibt, aber wenigstens lebt sie noch. Und auch für sie muss es sehr schwer gewesen sein, ihren Mann zu verlieren.«
    »Zweimal«, sagte April.
    »Gott, ja, daran habe ich ja gar nicht gedacht.«
    April musste zugeben, dass sie den Gedanken ebenfalls völlig verdrängt hatte. Sie war so mit ihrem Kummer beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, sich zu überlegen, wie es ihrer Mutter gehen mochte, nachdem Wills sterbliche Überreste mitten in der Nacht geraubt worden waren. Gott, ich bin so was von verwöhnt und egoistisch , dachte sie. Wahrscheinlich quälte Silvia sich mit Selbstvorwürfen – die Tatsache, dass sich die leeren Weinflaschen in der Mülltonne türmten, war ein ziemlich eindeutiger Hinweis darauf, dass sie nicht gut mit der Situation zurechtkam – und, ja, vielleicht hatte sie es nicht besser verdient, aber es ständig wieder aufs Brot geschmiert zu bekommen, verdiente ebenfalls keiner. April beschloss, sie künftig nicht ganz so gnadenlos

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