Der schlafende Engel
in die Mangel zu nehmen. Davina hatte völlig recht – immerhin lebte sie noch.
»Morgen kommst du also auch wieder in die Schule?«, fragte Davina.
April nickte. Nicht, dass sie große Lust darauf hatte, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie war offiziell aus dem Krankenhaus entlassen worden, und Grandpa würde ihr bestimmt nicht erlauben, noch länger zu Hause zu bleiben, nur weil sie »einen Schock erlitten« hatte.
»Das wird bestimmt ziemlich seltsam«, meinte sie.
» Ist es schon, Süße.«
»Ich meine, ohne Miss Holden und ohne Ben.«
»Dafür aber mit einem neuen Rektor.«
April wandte sich ihr zu.
»Was? Es gibt schon einen neuen Rektor?«
»Wusstest du das etwa nicht? Zumindest Daddy ist überglücklich darüber. Er konnte Mr Sheldon ja nie ausstehen, Gott sei seiner Seele gnädig. Offensichtlich entspricht der Neue eher den Vorstellungen des Beirats als sein Vorgänger.«
»Was bedeutet das?«
»Vermutlich, dass sie noch mehr neue Schüler rekrutieren.«
April sah sie scharf an.
»Rekrutieren?«
»Na ja, dass sie all die Genies an die Schule holen, die unentgeltlich die Versuchsprogramme für ihre Kumpels durchführen sollen.«
April fiel die Kinnlade herunter. Sie konnte nicht fassen, dass Davina es laut aussprach, als wüsste das jedes Kind. Davina lachte nur.
»Ich bitte dich. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie all diese Superhirne nur aus Spaß an die Schule holen, oder?«
»Nein, das nicht, aber soweit ich weiß, hat mein Vater unmittelbar vor seinem Tod an einer Recherche über Ravenwood gearbeitet.«
»Durchaus möglich. Schließlich war das sein Job, oder nicht? Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir, wie arme Schulkinder als Sklaven missbraucht werden, dabei verstößt es nicht gegen das Gesetz, sondern ist nur moralisch ein bisschen grenzwertig. Zumindest sagt Daddy das. Ravenwood ist ein Geschäft, Herzchen, und die Schlauberger sind das wichtigste Gut. Ich glaube, die Idee dahinter ist, sie gegen Kost, Logis und Unterricht arbeiten zu lassen.«
»Aber bezahlen wir denn nicht dafür, um nach Ravenwood zu dürfen?«
Davina stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Meine Güte, du bist so naiv, Schätzchen. Höchste Zeit, dass ich dir mal auf die Sprünge helfe.«
Keine schlechte Idee , dachte April. Ganz im Gegenteil.
Fünftes Kapitel
E ine Schulversammlung in Ravenwood war ein großes Ereignis. An den meisten Schulen fanden sie regelmäßig statt, doch in Ravenwood wurde größter Wert darauf gelegt, möglichst keine Unterrichtszeit zu vergeuden, deshalb wurden die Schüler lediglich zusammengetrommelt, wenn es etwas wirklich Wichtiges zu verkünden gab. Folglich brodelte die Gerüchteküche gehörig, als die Schüler im Anschluss an die Klasseneinteilung erwartungsvoll in die Aula traten. Caro hingegen hatte wieder einmal ganz andere Dinge im Kopf.
»Ich fasse es nicht, dass du mit Davina abhängst«, sagte sie. »Nach allem, was passiert ist? Ihr Bruder hat versucht, dich bei lebendigem Leib zu verbrennen, April!«
»Pssst!« April sah sich besorgt um. Nicht dass die Vorfälle in Mr Sheldons Haus ein großes Geheimnis gewesen wären – die Polizei hatte die Schule geschlossen, weil sie offiziell als Tatort galt, und darüber hinaus Schüler und Eltern befragt. Außerdem war der Fall als »Blutiges Drama in Ravenwood« von den Zeitungen aufgegriffen und auf sämtlichen Titelseiten verheizt worden –, trotzdem wollte April nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
»Das weiß ich selber«, flüsterte sie und zerrte Caro in eine Ecke der Aula, wo die anderen sie nicht hören konnten. »Aber wir müssen nach wie vor so viel wie möglich über die Blutsauger zusammentragen. Der Regent ist tot, aber Ravenwood existiert immer noch, oder etwa nicht?«
»Leider«, gab Caro verdrossen zurück. April folgte ihrem Blick zur anderen Seite des Saals, wo die Schlangen sich kichernd und lästernd in eine Stuhlreihe drängten. Und mittendrin befand sich Simon, ehemals Caros bester Freund und Schwarm. Es war ziemlich schwer für sie, zusehen zu müssen, wie er mit einer Horde halbtoter Killer herumhing. Und dass der gewaltsame Tod von Layla, ihrer alten Sandkasten-Freundin, in einer der Friedhofskatakomben auf das Konto der hypergestylten, aufgemotzten Miststücke ging, trug nicht gerade zur Besserung ihrer Stimmung bei. April konnte ihre Feindseligkeit nur allzu gut nachvollziehen.
»Davina mag ein boshaftes Dreckstück sein, aber in einem Punkt hat sie recht«,
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