Der schlafende Engel
Privatschule geleitet, doch er war definitiv so ziemlich der letzte Mensch, den sie als Rektor für Ravenwood erwartet hätte. Unter dem Applaus der Schüler betrat Tame langsam die Bühne. Auf seinen Zügen lag die Andeutung eines Lächelns, während seine unnatürlich hellen Augen durch den Saal schweiften. April konnte kaum glauben, dass er ab sofort die Leitung der Schule übernehmen würde. Wie war das möglich? Erschaudernd dachte sie daran zurück, wie Tame unter dem Vorwand, ihr »ein paar Fragen zu stellen«, bei ihr zu Hause aufgetaucht war und sie gezwungen hatte, sich genau an die Stelle zu stellen, an der ihr Vater gestorben war. Dr. Tame schien keinerlei Skrupel zu haben, die Grenzen der Professionalität oder des Anstands zu überschreiten, um seine Ziele zu erreichen. Vielleicht hatte er diesem Ehrgeiz seinen neuen Posten zu verdanken.
»Guten Morgen, allerseits«, sagte Dr. Tame. »Ich freue mich sehr, hier zu sein, und bin dem Beirat zutiefst dankbar für das Vertrauen, das er mir entgegenbringt. Ich bin sicher, dass wir Ravenwood gemeinsam zu einer noch einzigartigeren Schule machen können, als sie es unter meinem Vorgänger bereits war.«
Er hielt kurz inne, während die leicht verwirrten Schüler pflichtschuldig applaudierten.
»Ich kannte Mr Sheldon persönlich und empfinde seinen Verlust als eine wahre Tragödie. Er war ein sehr kluger und fürsorglicher Mensch.«
Ja, genau. So fürsorglich, dass er mir die Kehle aufschlitzen wollte , dachte April.
»Und wir wollen auch Miss Holden nicht vergessen, eine überaus geschätzte und beliebte Kollegin. Ihr Tod ist ebenfalls sehr tragisch. All unsere Gedanken sind in dieser schweren Zeit bei ihrer Familie. Aber …«
Er machte eine bedeutungsschwangere Pause.
»Aber welche Gerüchte ihr auch immer gehört haben mögt, lasst nicht zu, dass eure Fantasie mit euch durchgeht. Ich habe sowohl mit den zuständigen Polizeibeamten als auch mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr gesprochen und kann euch allen versichern, dass es sich bei den bedauerlichen Vorkommnissen hier und in Mr Sheldons Haus lediglich um eine Aneinanderreihung tragischer Unglücksfälle handelt. So schrecklich sie auch sein mögen, müssen wir mit all dem abschließen und nach vorn blicken.«
»Hört, hört«, warf Mr Anderson ein, woraufhin Dr. Tame lächelte.
»In den vergangenen Monaten gab es an der Schule eine Menge Unruhe und Ungewissheit. Ich weiß, dass einige von euch enge Freunde verloren haben. Es war eine sehr schwierige Zeit für alle, aber manche von euch wissen ja bereits, dass ich sehr eng mit der Polizei zusammenarbeite, und ich kann euch versichern, dass diese schweren Zeiten nun vorüber sind. Ab jetzt ist alles anders. Obwohl ich natürlich immer noch von jedem von euch lauter Einsen erwarte.«
Dies war eindeutig Dr. Tames Vorstellung von einem Scherz, und die Lehrer rangen sich vereinzelt ein Lachen ab.
»Ich möchte die Gelegenheit nutzen und euch eine neue Lehrmethode vorstellen, da sich herausgestellt hat, dass die meisten alten Herangehensweisen schlicht und einfach nicht funktionieren. Ich bin der Auffassung, dass die Schüler von den Fesseln des konventionellen Schulsystems befreit werden sollten. Ravenwood-Schüler sind intelligenter und reifer als ein gewöhnlicher Durchschnittsschüler, und diese Tatsache möchte ich mir zu Nutze machen, indem ich euch die Freiheit gebe, das zu lernen, was ihr auch wirklich lernen wollt.«
April sah, wie ein paar Mädchen in der Reihe vor ihnen erstaunte, aber auch interessierte Blicke tauschten. Plötzlich war diese Schulversammlung mehr als eine gewöhnliche Zusammenkunft, um einen neuen Lehrer kennenzulernen.
Tame, der die Stimmung im Raum instinktiv zu erfassen schien, verzog das Gesicht zu einem blasierten Lächeln.
»Erstens werden wir uns von den verstaubten alten Lehrbüchern verabschieden. Was sollten wir aus ihnen schon lernen?«
Sein Lächeln wurde eine Spur breiter, als ein kollektives Raunen durch die Aula ging.
»Und einige von euch wissen doch mehr als derjenige, der vorn an der Tafel steht, wenn ich richtig informiert bin. Deshalb ist es doch viel sinnvoller, diese lächerliche Lehrer-Schüler-Hierarchie abzuschaffen. Ich will, dass ihr das Tempo bestimmt.«
April sah, wie die Schüler ringsum nickten. Dieser Mann wusste, wie man Menschen für sich gewann, so viel stand fest.
»In vielen Fällen sind Ravenwood-Schüler sogar weiter als Uni-Studenten. Deshalb schlage ich vor, dass wir euch auch
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