Der schlafende Engel
wie Studenten unterrichten – mit Seminaren, Einzeltutorenkursen und Workshops ohne zeitliche Begrenzung, in denen ihr eure eigenen Ziele und Lernmethoden festlegt. Ach ja«, sagte er und machte eine weitere bedeutungsschwere Pause. »Und ich werde die Hausaufgaben abschaffen.«
Spontaner Jubel erhob sich – auch das hatte Tame eindeutig geplant.
»Ja, Leute«, fuhr er nachdrücklich fort, »Ravenwood ist die großartigste Schule dieses Landes, mit in jeder Hinsicht bemerkenswerten Schülern. Ich bin wirklich stolz und fühle mich geehrt, Teil der Ravenwood-Geschichte zu werden. Und eins steht jetzt schon fest: Diese Geschichte werdet ihr eines Tages euren Enkeln erzählen.«
Caro sah April an und formte lautlos »Der Typ ist komplett irre« mit den Lippen.
»Ich bin ganz sicher, dass wir hier Geschichte schreiben und den Leuten die Kinnlade herunterfallen wird, wenn ihr ihnen erzählt, dass ihr in Ravenwood wart. Ihr seid die Elite, die Vorreiter von etwas gänzlich Neuem und Besonderem. Meine Damen und Herren, wir werden die Welt verändern, ob sie nun bereit dafür ist oder nicht.«
Zu Aprils Verblüffung erhob sich tosender Applaus und Jubel. Erschüttert sah sie sich in der Aula um – kauften sie ihm diesen Schwachsinn allen Ernstes ab? Allem Anschein nach, ja. Ihr fiel auf, dass einige von ihnen den neuen Rektor anhimmelten, als wäre er ein Popstar. Als die Versammlung endete und sich die Schüler erhoben, hörte sie einzelne Grüppchen aufgeregt darüber diskutieren, was sie soeben gehört hatten.
April sah sich nach Davina um, die jedoch bereits gegangen war.
»Großer Gott, das ist ja, als wäre uns der Messias erschienen oder so was«, stieß Caro angewidert hervor, als sie sich den anderen anschlossen. »Merken die nicht, dass der Typ komplett durchgeknallt ist?«
April zuckte mit den Achseln. »Für sie ist er nur ein neuer Lehrer, der alles anders macht als vorher. Im Gegensatz zu uns kennen sie sein wahres Gesicht noch nicht.«
»Wenn er seine Methoden tatsächlich umsetzen sollte, wird es hier in nächster Zeit ziemlich krass zugehen«, fügte Caro hinzu.
»Oh, so würde ich es wohl nicht bezeichnen«, sagte eine Stimme.
Sie fuhren herum und sahen Dr. Tame direkt hinter ihnen stehen. Caros Züge erstarrten, als ihr bewusst wurde, dass er den letzten Teil ihres Satzes garantiert gehört hatte.
»Vielleicht ein bisschen anders , Caro«, erklärte Tame mit seinem widerwärtig süßlichen Lächeln. »Aber ich bin sicher, du wirst die Veränderungen als positiv empfinden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass … unkonventionelle Schüler ganz besonders gut auf diese Methoden ansprechen.«
»So, wie Sie es sagen, hört sich das an, als wäre es etwas Schlimmes, unkonventionell zu sein, Dr. Tame«, gab Caro zuück, die sich von ihrem Schreck erholt und ihre Selbstsicherheit zurückgewonnen hatte.
»Ganz im Gegenteil, Caroline. Ich bin sogar der Ansicht, diese Schule braucht möglichst viele Menschen mit originellen Denkansätzen.«
»Oh, was das betrifft, können Sie sich voll und ganz auf mich verlassen«, konterte Caro lächelnd. »Originalität ist sogar meine Stärke.«
»Das freut mich zu hören«, erwiderte er. »Allerdings werde ich keinerlei Störungen dulden. Ist das klar?«
»Glasklar, Boss.« In gespieltem Gehorsam schlug Caro die Hacken zusammen. »Ich würde nicht mal im Traum daran denken.«
Tame wandte sich an April.
»Würdest du mich bitte in mein Büro begleiten?«
April sah Caro an. »Wieso? Ist es wichtig?«
Tame lachte. »Nur die Ruhe, April. Ich möchte mich bloß ein bisschen mit dir unterhalten, das ist alles.«
Widerstrebend folgte sie ihm die Treppe hinauf, bis sie vor der Tür des Zimmers mit dem Schild »Rektor« standen. Eigentlich überraschte es April nicht, dass er Mr Sheldons altes Büro ausgesucht hatte, vielmehr spiegelte es seinen makabren Sinn für Humor wider. Trotzdem war sie alles andere als versessen darauf, es zu betreten. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie zusehen müssen, wie Benjamin Osbourne Miss Holden mit dem Feuerzeug malträtiert hatte.
»Nur herein«, sagte Dr. Tame ungeduldig und hielt ihr die Tür auf. Sie hatte keine andere Wahl, als hineinzugehen. Erstaunt stellte sie fest, dass sich im Grunde nichts verändert hatte – dasselbe vollgestopfte und schäbige Büro mit den überquellenden Aktenschränken. Ein Frühjahrsputz wäre wohl das Mindeste gewesen , dachte sie.
»Setz dich«, forderte Dr. Tame sie auf und
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