Der schlafende Engel
trat hinter seinen Schreibtisch. Erst jetzt registrierte sie mit klopfendem Herzen, dass es sich um denselben Schreibtisch handelte. Den Schreibtisch, an den Miss Holden gefesselt gewesen war; auf dem man ihr die Kehle aufgeschlitzt hatte. Wie konnte er so etwas tun? Wie konnte er seelenruhig dahinter sitzen, als wäre nichts geschehen?
Aber natürlich war dies exakt der Grund, weshalb er sie hierher zitiert hatte, oder? Sie sollte – konnte – nicht vergessen, dass die Polizei Charles Tame eigens wegen seiner unorthodoxen Befragungsmethoden engagiert hatte. In der Vergangenheit war schon so mancher verstockte Verbrecher unter dem Druck eingebrochen und hatte ausgepackt, und Druck würde er ohne jeden Zweifel auch gleich auf sie ausüben. Sie sollte wissen, dass es ihn nicht im Geringsten störte, nur wenige Zentimeter neben der Stelle zu sitzen, wo ihre Mentorin brutal ermordet worden war. Und sie sollte wissen, dass er bereit war, alle Register zu ziehen, um seine Ziele zu erreichen. Das hatte er bereits bei seinem Besuch im Haus der Dunnes unter Beweis gestellt. Der Mann war ein Ungeheuer, vielleicht ein noch gefährlicheres als die Vampire. Und in Anbetracht der Ziele, die Ravenwood sich gesetzt hatte, war die Wahl des Beirats womöglich doch sehr klug.
»Ich nehme an, du hast nicht damit gerechnet«, sagte Tame lächelnd. Was meinte er? Den Schreibtisch oder dieses Gespräch?, dachte April. Aber wahrscheinlich spielte es für ihn keine Rolle. Er wollte sie bloß aus dem Konzept bringen. Aber diese Genugtuung würde sie ihm nicht verschaffen.
»Eigentlich nicht«, gab sie so gelassen zurück, wie sie nur konnte. »Soweit ich mich erinnere, waren Sie doch früher Lehrer und haben sogar einmal eine Schule geleitet, stimmt’s?«
Tame nickte.
»Kluges Mädchen. Wie ich sehe, hast du deine Hausaufgaben gemacht. Nach dem Motto Kenne deinen Feind , was? Genau das ist auch der Grund, weshalb ich dich hergebeten habe. Ich will gleich mit der Sprache herausrücken, April. Du bist ein echtes Problem.«
April schluckte.
»Ein Problem?«
»Ich bitte dich, April, spiel nicht die Unschuld vom Lande. Du weißt ganz genau, was ich damit meine. An dieser Schule haben sich in letzter Zeit unverhältnismäßig viele Todesfälle ereignet, und zwar ausnahmslos alle in deinem unmittelbaren Umfeld.«
Er zählte die Namen an den Fingern ab.
»Isabelle Davis: Du hast die Leiche entdeckt. Layla: Auch sie hast du gefunden. Und beim Tod von Milo und Marcus warst du ganz in der Nähe.«
»Nein, das stimmt nicht!«
Tame fuhr fort, ohne auf ihren Protest einzugehen.
»Dann war da natürlich der tragische Vorfall mit deinem Vater. Und jetzt die beiden Lehrer und Benjamin Osbourne. Das ist alles sehr merkwürdig, auch wenn mir die Todesfälle zu meinem neuen Job verholfen haben.«
Er lächelte, doch sein Gesichtsausdruck blieb kalt.
»Also. Wie soll ich mich verhalten? Wenn ich dich von der Schule werfe, schadet es unserem Ruf. Angesichts der Verbindungen deines Vaters zur Presse liegt es auf der Hand, was passieren würde. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: Eliteschule lässt trauerndes Mädchen im Stich. Und das wäre bestimmt nicht sonderlich hilfreich, schon gar nicht in dieser heiklen Phase. Andererseits kann ich natürlich nicht so tun, als wäre all das nicht passiert. Das würde wie eine Schwäche aussehen, und schwach bin ich ganz bestimmt nicht, April. Ganz im Gegenteil.«
April saß wortlos auf ihrem Stuhl. Erwartete er eine Erwiderung? Tame stützte die Ellbogen auf dem Schreibtisch auf und legte die Fingerspitzen gegeneinander.
»Wie gesagt, kommen wir direkt zum Punkt. Ich möchte, dass du die neue Schulsprecherin von Ravenwood wirst. Mit der neuen Aufgabe wird dir sicher nicht langweilig werden.«
April war so verdattert, dass sie in Gelächter ausbrach, das jedoch schlagartig verstummte, als ihr dämmerte, dass das kein Scherz gewesen war.
»Ich? Schulsprecherin?«
»Wieso nicht? Du bist klug, gut vernetzt und, was noch viel wichtiger ist, auf diese Weise haben wir das PR -Problem hervorragend in den Griff bekommen, findest du nicht auch?«
April musste zugeben, dass er recht hatte. Statt sie aufs Abstellgleis zu stellen und ihr damit indirekt den Vorwurf zu machen, zwischen ihr und den zahlreichen »leidigen« Todesfällen unter den Schülern bestünde eine Verbindung, entstand mit diesem Schachzug der Eindruck, als stärke die Schule ihr sogar den Rücken und stehe ihr in dieser schweren Zeit zur
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