Der schlafende Engel
Schulsprecherin? Liebling, das ist ja wunderbar!«, dröhnte er und drückte sie überschwänglich an sich. »Ich bin so stolz auf dich. Siehst du, es wendet sich alles zum Guten, wie ich es dir gesagt habe.«
Sie nickte und starrte betrübt in ihre Tasse.
»Tut mir leid, Grandpa, ich wusste, dass du dich darüber freuen würdest, aber im Moment fällt es mir ziemlich schwer, mit allem klarzukommen.«
»Ja, Dr. Tame hat mich vorgewarnt, dass das passieren könnte.«
Sie hob den Kopf.
»Du hast mit Dr. Tame geredet?«
»Reg dich nicht auf, mein Püppchen. Er war doch nur um dein Wohlergehen besorgt. Nach dem Brand hat er mich angerufen, um mich zu warnen, dass dieses Erlebnis Langzeitfolgen hervorrufen könnte. Immerhin ist er Psychologe. Er meinte, du könntest eine posttraumatische Belastungsstörung davongetragen haben, die sich mit periodisch auftretenden Schocksymptomen zeigt, vor allem wenn man bedenkt, was du in den letzten Monaten sonst noch durchgemacht hast.«
Verdammt , dachte April. Sie hatte Dr. Tame also tatsächlich unterschätzt. Hatte er die ganze Zeit geplant, die Leitung von Ravenwood zu übernehmen? Vielleicht hatte er sich sogar mit Ben verbündet, um Mr Sheldon als Rektor abzusägen … nein, das war paranoid. Aber genau das war Dr. Tames Spezialität: andere zu verunsichern und Zweifel zu säen.
»Vielleicht hat er ja recht, Grandpa«, seufzte sie. »Aber ich werde mich bemühen.«
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Thomas lächelnd. »Du bist ein starkes Mädchen. Wenn du am Boden liegst, stehst du wieder auf, klopfst dir den Staub ab und machst einfach weiter, so wie man es von einer Hamilton erwarten kann.«
Sie glaubte nicht, dass sie stark war. Das hatte sie noch nie getan. Aber solange sie sich in Grandpas Nähe aufhielt, fühlte sie sich sicher. Bei ihm brauchte sie sich nicht zu verstellen.
»Eines macht mir immer noch zu schaffen«, gestand sie leise. »Wann immer ich die Augen zumache, sehe ich Daddys offenes Grab vor mir.« Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und wischte sie mit dem Handrücken ab. »Tut mir leid. Es ist so albern. Ich wurde gewürgt und um ein Haar bei lebendigem Leib verbrannt, und meine größte Sorge ist, dass jemand eine Grabstätte aufbricht.«
»Das ist keineswegs albern.« Thomas drückte ihre Hand. »Jemand hat die Leiche deines Vaters gestohlen. Das würde jedem an die Nieren gehen. Und glaub mir eines: Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zurückzubringen. Und wer auch immer das gewesen ist, wird dafür bestraft werden, dafür werde ich höchstpersönlich sorgen.«
Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Bestürzt registrierte April, dass sie seine Rippen spüren konnte. Sie löste sich von ihm und blickte in sein zerfurchtes Gesicht. Auf den ersten Blick schien er derselbe Mann zu sein wie immer: groß, mit langem grauem gewelltem Haar, buschigen Brauen und tiefen Lachfalten um Augen und Mund – derselbe alte Grandpa –, aber waren die Tränensäcke unter seinen Augen nicht ein wenig ausgeprägter als sonst? Und war er nicht blasser als gewöhnlich? Oder bildete sie es sich nur ein?
»Aber dir geht es gut, oder, Grandpa?«
»Natürlich«, antwortete Thomas und schlug sich auf die Brust. »Stark wie Bär.«
Nein, »stark wie ein Bär« ist er eindeutig nicht, dachte April mit einem verstohlenen Lächeln. Trotz des Platzes, den er sich in der britischen Gesellschaft erarbeitet hatte, blitzte von Zeit zu Zeit seine osteuropäische Abstammung auf.
»Ich habe nur das Gefühl, als hättest du ein bisschen abgenommen.«
Thomas lachte.
»Ach, ihr Frauen und euer ständiges Theater wegen der Kilos. Wenn wir zu fett sind, mault ihr, und wenn wir zu mager sind, seid ihr auch nicht zufrieden. Euch kann man es wohl nie recht machen. Deine Mutter macht mir Vorhaltungen, ich würde die verkehrten Sachen essen und sollte ins Fitness-Studio gehen, aber darauf kann ich immer nur dasselbe sagen: Meinen Mädels hinterherzurennen, hält mich fit genug.«
April lachte, doch dann sah sie ihn an. »Ich will nicht, dass dir etwas passiert … so wie Dad.«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Thomas. »Ich habe die Absicht, tausend Jahre alt zu werden. Und auch dann braucht Petrus noch zehn Pferde, um mich durch die Pforte zu kriegen.«
»Tut mir leid«, sagte April. »Ich mache mir bloß Sorgen.«
Thomas nickte und tätschelte April die Hand.
»Das verstehe ich doch. Manchmal ist es gut, sich Sorgen zu machen.
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