Der schlafende Engel
redeten die Leute nicht miteinander; abgesehen von den Ansagen am Bahnsteig, dem fauchenden Luftzug und dem lauten Rattern, wenn ein Zug einfuhr, und dem Zischen, mit dem sich die Türen öffneten und schlossen, war es still. Hier im Auto hingegen war man einer ständigen Geräuschkulisse ausgesetzt – Hupen, knirschende Getriebe, wütende Rufe, das Jaulen zahlloser Motoren. April erinnerte das Szenario an einen Stein, den man aufhob und Millionen Käfer und Tausendfüßer darunter krabbeln sah.
»Wie geht es dir?«, fragte Peter schließlich.
»Ganz okay. Schließlich ist das nicht meine erste Leiche.« Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, wandte sie sich ihm erschrocken zu. »Oh nein, das wirst du doch nicht schreiben, oder? Das klang schrecklich.«
Peter lachte.
»Nein, April, die Idee dahinter ist doch, dich in einem möglichst positiven Licht darzustellen, schon vergessen? Also rede ruhig frei von der Leber weg. Ich werde ganz sicher nichts veröffentlichen, womit du nicht einverstanden bist, versprochen.«
Das Verrückte daran war, dass es stimmte, was sie gesagt hatte. Die meisten Menschen bekamen zeitlebens nicht einmal eine Leiche zu Gesicht, zumindest keine echte. Und sie? Mit ihren gerade einmal siebzehn Jahren hatte April … wie viele gesehen? Drei? Vier? Oh Gott, sie konnte es nicht einmal mehr sagen. Was es seltsamerweise fast noch schlimmer machte.
»Wieso erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?«
Mit schleppender Stimme gab April die Ereignisse des Abends wieder: die Party, Calvins Übergriff auf Ling und ihre Rettung – allerdings in der überarbeiteten Version ohne Gabriels Eingreifen –, gefolgt von der Fahrt nach Hause und dem Moment, als sie Calvins Leiche entdeckt hatte.
»Es wäre vielleicht besser, den Teil mit Calvin und Ling im Zelt wegzulassen«, sagte sie. »Ich weiß nicht recht, ob Ling so begeistert davon wäre.«
»Genauso wenig wie Calvins Eltern, vermute ich«, meinte Peter. »Außerdem soll es in erster Linie um dich gehen, April.«
»Um mich? Aber Calvin ist doch derjenige, der ermordet wurde.«
»Ja, und das ist auch sehr tragisch, trotzdem möchte ich das Augenmerk vom eigentlichen Kriminalfall ablenken und eher eine allgemeine Story daraus machen. Das Mädchen, das ständig gegen Widrigkeiten zu kämpfen hat, es aber immer wieder schafft, die Krisen zu meistern, so etwas in dieser Art. Damit erreichen wir, dass die Leute den Brand im East End eher vergessen.«
Dies war auch absolut in Aprils Interesse. Sie hatte sich bereits gefragt, ob Peter seine Beziehungen hatte spielen lassen müssen, um zu verhindern, dass die Zeitungen darüber schrieben, denn sollte ein Reporter ein wenig tiefer graben, sähe es ziemlich schlecht für sie aus: April Dunne hatte zwei Leichen entdeckt, ihren Vater sterben sehen und war zweimal ernsthaft angegriffen worden, wobei der eine Vorfall sogar tödlich ausgegangen war. Danach war sie entführt und gezwungen worden, den Mord an Miss Holden mit anzusehen, ehe sie in Mr Sheldons Haus in Shoreditch gelandet war, wo er und Benjamin Osbourne augenscheinlich im Zuge eines Brands ums Leben gekommen waren. Wenn man all diese Teile zusammensetzte, gelangte man unweigerlich – günstigstenfalls – zum Schluss, dass April ein riesiger Pechvogel war; schlimmstenfalls jedoch könnte man sie für die Personifizierung des Spruchs »Wo Rauch ist, ist auch Feuer« halten. Erschaudernd malte sie sich aus, wie die Klatschblätter sich darauf stürzen würden.
»Im Grunde willst du dasselbe wie Dr. Tame, nur eure Motive unterscheiden sich«, sagte sie. »Er wollte nur, dass die Schule möglichst in einem positiven Licht erscheint.«
»Ich hoffe, das ist die einzige Ähnlichkeit zwischen uns«, bemerkte Peter lächelnd, ohne den Blick von der Straße zu lösen. »Ich habe mich ein paar Mal mit ihm unterhalten, als er für die Polizei gearbeitet hat, allerdings hatte ich den Eindruck, dass er ein bisschen zu überzeugt von seiner Genialität ist.«
April kicherte.
»Du besitzt eine ausgezeichnete Menschenkenntnis, Onkel Peter.«
Sie sah ihn an.
»Apropos – du redest doch ziemlich häufig auch mit Politikern, oder?«
Peter verdrehte die Augen.
»Viel zu häufig. Nach einer Weile betrachtet man sie tatsächlich als Menschen.«
»Hast du jemals David Harper kennengelernt?«
»Natürlich. Von ihm gibt es im Augenblick jeden Tag einen neuen markigen Spruch. Rein zufällig bin ich morgen zu einem Empfang eingeladen, wo er
Weitere Kostenlose Bücher