Der schlafende Engel
sogar das beschissene CNN ist da. Highgate ist eine Sache, aber hier sind wir mitten in London, dem Herzen der millionenschweren Tourismusindustrie. Diesen Mord können wir nicht einfach unter den Teppich kehren; nicht nachdem die Nachricht über eine Million verdammter iPhones um die Welt geschickt worden ist.«
Er trat ans Fenster und blickte hinaus.
»Sämtliche Parteien, die mit der Polizei ein Hühnchen zu rupfen haben – und das ist so gut wie jede –, rücken DCI Johnston auf die Pelle, ganz zu schweigen vom Bürgermeister und der Polizeispitze, die alle wollen, dass der Mord schleunigst aufgeklärt wird, am besten schon gestern.«
April saß wortlos da und wünschte, sie könnte im Erdboden versinken.
»Kurz gesagt, sieht es so aus: Wenn ich diesen Fall nicht ganz schnell löse, kann ich meine Karriere vergessen. Schlimmer noch, ein Mörder wird immer noch auf freiem Fuß sein – und wahrscheinlich wird es weitere Opfer geben. Und? Wie hört sich das für dich an?«
April schwieg weiter.
»Gut, dann kapierst du vielleicht auch endlich, dass das hier eine ernste Angelegenheit und kein lustiges Gruselrollenspiel für dich und deine Freunde ist. Gestern Abend wurde einem jungen Mann brutal die Kehle aufgeschlitzt.«
»Das weiß ich, Mr Reece. Ich habe ihn schließlich mit eigenen Augen gesehen, schon vergessen?«
»Tja, dann sieh zu, dass das Bild nie mehr aus deinen Gedanken verschwindet. Behalte es in Erinnerung und auch, was es bedeuten kann, wenn man Geheimnisse für sich behält.«
Er starrte sie durchdringend an.
»Gibt es sonst noch etwas, was du mir sagen willst?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Gut. Tja, das war’s dann wohl.«
»Es tut mir so leid, dass Sie wütend auf mich sind, Mr Reece. Das wollte ich nicht, ehrlich.«
»Ist gut, April«, sagte er und nahm seinen Mantel. »Versprich mir nur eins, ja?«
»Alles, was Sie wollen.«
»Erzähl um Himmels willen diesen Aasgeiern von der Presse da draußen nichts von diesem verdammten Vampir-Blödsinn. Das wäre der letzte Nagel zu meinem Sarg – wortwörtlich.«
»Ach, wenn Sie doch nur …«
Reece hob erneut die Hand und trat zur Tür.
»Ich glaube, ich habe mich klar ausgedrückt, April. Solltest du deine Meinung noch mal ändern, weißt du ja, wo du mich findest.«
April sah zu, wie er hinaustrat und die Tür hinter sich schloss. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und begann haltlos zu schluchzen.
Achtzehntes Kapitel
A pril zog den Vorhang zurück und spähte hinaus. Oh Gott, die sind ja immer noch da . Na ja, so ganz stimmte das nicht: Die Übertragungswagen mit ihren riesigen Satellitenschüsseln waren abgezogen, nur die Fotografen und Reporter hielten nach wie vor die Stellung – acht Stück, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite postiert hatten, rauchten und plauderten. Und warteten. Auf sie.
»Offenbar wissen sie, dass ich irgendwann heute Morgen das Haus verlassen muss, um zur Schule zu gehen«, sagte sie.
»Tja, das kannst du ihnen nicht vorwerfen«, erwiderte Fiona am anderen Ende der Leitung. »Schließlich kommt es nicht oft vor, dass gerade einmal zehn Autominuten von den großen Redaktionen entfernt eine verstümmelte Leiche an einem Zaun aufgehängt wird.«
»Herzlichen Dank, dass du mich noch mal daran erinnerst, sonst hätte ich es glatt vergessen, Fee.«
»Tut mir leid. Gibt es im Haus deines Großvaters denn keinen Hinterausgang?«
»Blöderweise nicht. Und wenn, dann müsste er schon einen Geheimgang zum Buckingham Palace haben, denn diese Aasgeier könnten mir auch dort auflauern, oder?«
Sie seufzte.
»Ich komme mir wie eine Verbrecherin vor.«
»Nimm es dir doch nicht so zu Herzen, Süße«, sagte Fiona. »Du kannst doch nichts dafür.«
In diesem Punkt war April sich nicht so sicher. Beim Gedanken daran, wie Calvin am Tor gehangen hatte, mit einer riesigen klaffenden Wunde, wo einst seine Kehle gewesen war, drehte sich ihr der Magen um. Großer Gott. Sie musste aufhören, ständig daran zu denken. Nein, sie hatte Calvin nicht getötet und auch keine Ahnung, wer es sonst getan hatte, doch Tatsache war: Jemand hatte ihm die Kehle herausgerissen, und wer auch immer das getan hatte, wollte, dass sie das grauenhafte Ergebnis sah.
»Ich wünschte, ich wüsste, was hier los ist«, sagte sie. »Schlimm genug, dass Calvin sterben musste, aber dass man ihn auch noch hier ans Tor gehängt hat … ich kann verstehen, wieso Mr Reece gestern so wütend auf mich war. Ich stehe tatsächlich
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