Der schlafende Engel
auch sein wird. Wieso fragst du?«
»Oh, ich habe nur gehört, dass er Verbindungen zu Ravenwood hat.«
Peter hielt vor einer Ampel an und sah April an.
»Und deshalb glaubst du, er steckt in dieser Sache drin, an der dein Vater recherchiert hat?«
Onkel Peter mochte der verlässliche alte Freund der Familie sein, doch hinter seiner Kuschelbärenfassade schlummerte ein messerscharfer Verstand. Sie nickte.
»Tja, in gewisser Weise hast du sogar recht. Du erinnerst dich ja, dass ich Recherchen angestellt habe, nachdem dein Vater Hinweise darauf gefunden hat, dass die Köpfe von Ravenwood die Forschungsergebnisse der Schüler benutzt haben, ohne sie dafür zu bezahlen.«
»Genau, und seit Dr. Tame das Ruder übernommen hat, ist es noch viel schlimmer«, sagte sie. »Inzwischen tun sie es sogar ganz ungeniert.«
Peter nickte nachdenklich, während die Ampel auf Grün sprang und er weiterfuhr.
»Tja, leider musste ich feststellen, dass es gegen kein Gesetz verstößt. Man kann kein Patent auf Erkenntnisse anmelden, und in der Wissenschaft gilt derjenige, der seine Ergebnisse als Erster veröffentlicht, auch als derjenige, der sie erarbeitet hat. Genauso kann ein Unternehmen oder eine Lehranstalt auf jede Arbeit, die mit ihren Laboren verbunden ist, einen Anspruch erheben. Wenn Ravenwood also die genialen Ideen eines Schlaukopfs aus der Schülerschaft klaut, sagt kein Mensch etwas.«
»Aber das ist doch unfair«, rief April. »Dr. Tame lässt neuerdings sogar Mitarbeiter von Agropharm in den Laboren von Ravenwood herumsitzen, damit sie sich Notizen machen. Wie kann so etwas richtig sein?«
»Richtig ist es definitiv nicht, April. Legal ja, aber richtig ist es nicht. Aber genau hier kommt ja die wunderbare britische Presse ins Spiel: Die öffentliche Meinung hat eine enorme Durchschlagskraft, und ich bin sicher, unsere Leser werden es als absolut unmoralisch empfinden, wenn Schülern die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten geklaut werden. Allerdings brauche ich handfeste Beweise, bevor ich Vorwürfe erheben kann, sonst streiten sie alles ab.«
Er seufzte.
»Leider behauptet Agropharm steif und fest, in keinerlei Zusammenhang mit Ravenwood zu stehen, von den Laborutensilien, die sie stiften, einmal abgesehen. Deshalb brauche ich dringend knallharte Fakten, und im Moment habe ich außer ein paar Berichten darüber, dass Agropharm sich fremdes Gedankengut unter den Nagel reißt, rein gar nichts in der Hand. Vermutlich würden die Lehrer oder Mitarbeiter die Erkenntnisse für ihre eigenen ausgeben. Es ist ziemlich schwierig, nachzuweisen, von wem die Initialzündung stammt.«
Sie verließen Kentish Town. Peter bog in den Bezirk Dartmouth Park ein und fuhr an den von hohen Mauern und Zäunen umgebenen Nobelanwesen vorbei.
April reckte den Hals und hielt nach der Stelle Ausschau, wo Alix Graves gestorben war. Eigentlich hatte sie gleich am ersten Tag in Highgate herkommen und sein Haus besuchen wollen, hatte es aber nie geschafft. Alix war der erste Tote gewesen. Was wäre wohl geworden, wenn der berühmte Sänger nicht gestorben wäre, sondern sich zum Aushängeschild der Verschwörung hätte machen lassen? Vielleicht hätten die Vampire Ravenwood für die Umsetzung ihrer Pläne nicht gebraucht, oder zumindest nicht in diesem Maße. Vielleicht hätten sie mithilfe von Alix ihre Rekrutierung im großen Stil durchgezogen, indem sie seine Popularität genutzt hätten, um eine ganze Generation von Jugendlichen dazu zu bewegen, der Maxime »Umarme die Dunkelheit« zu folgen. Außerdem wäre es kein schlechter Titel für ein Album, dachte April grinsend.
Schließlich hielt Peter vor dem Schulgebäude an, und April sah zu, wie die Schüler eintrudelten, schwatzend und lachend, als wäre alles in bester Ordnung. Vielleicht war die Welt für sie ja auch in Ordnung, und ihre größte Sorge galt der Frage, wie sie es bewerkstelligen sollten, in der nächsten Klausur in Astrophysik eine Eins zu bekommen. Wie viele von ihnen hatten gestern wohl die Nachrichten verfolgt? Wahrscheinlich alle. Immerhin waren sie hier in Ravenwood, wo Nachrichten zum Alltag gehörten; schließlich mussten sie über die aktuelle Lage im Mittleren Osten informiert sein und wissen, wie der FTSE stand. Außerdem brodelte die Gerüchteküche auch ohne die Satelliten-Nachrichtensender. Inzwischen wusste garantiert jeder hier, dass die neue Schulsprecherin auf Lings Party in einen Streit verwickelt gewesen und der »beliebte« Calvin, der sportlich so
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