Der schlaue Pate
jetzt?«
Prinz zuckte die Achseln. »Versuchen, ob es uns gelingt, ein bisschen Schlaf zu kriegen.«
Das gelang keinem in dieser Nacht. Desirée und Ollie hatten überhaupt noch nie einen Toten gesehen, selbst Prinz war nie unmittelbar Zeuge eines Mordes oder Totschlags geworden. Sekunden nachdem sie sich einen Mord auf Video hatten ansehen müssen, wurde der Täter vor ihren Augen erschossen. Unmengen Blut waren aus seinem Kopf geströmt.
Als er am nächsten Morgen in die verquollenen Augen der anderen blickte, beschloss Prinz, allen eine Woche freizugeben, um die Sache zu verarbeiten. Bis zum nächsten Verhandlungstag in knapp zwei Wochen würde sowieso weiter nichts passieren; Ellen Kaisers Exmann konnten sie sich auch in der letzten Woche noch vornehmen.
Die Spurensicherer waren weg. Da keinerlei Zweifel am Tathergang bestanden, konnte Ollies Bastelbude wieder betreten werden. Ollie betrachtete die riesige, inzwischen geronnene Blutlache, die vielen Flecken und Spritzer auf den Geräten und an den Wänden, schrubbte ohne großen Erfolg mit einem Putzlappen kurz daran herum und fluchte. Die anderen sahen mit leeren Gesichtern zu. Es hatte bereits angefangen zu stinken. Ollie schmiss den Lappen weg und stürmte raus.
Andreas und Professor Rind, die die Nacht in Gästezimmern des Herrenhauses verbracht hatten, fuhren nach Hause.
Am Freitag wurde das Wetter auf einen Schlag beinahe sommerlich, am nächsten Tag war alles grün. Prinz schwang sich zum ersten Mal in diesem Jahr auf sein Rennrad und schwitzte sich tagelang das Entsetzen aus dem Leib.
Desirée machte endgültig mit Niki Schluss und kam kaum aus ihrer Wohnung. Professor Rind besuchte sie jeden Tag und führte lange Gespräche mit ihr.
Ingrid stürzte sich in die Arbeit und räumte alles ab, was in den letzten Wochen liegen geblieben war.
Abends blieb jeder für sich und aß lustlos das Notwendigste.
Ollies Frau Anja konnte ein paar Tage Überstunden abfeiern, sie verbrachten die Woche in Kroatien, wo Anjas Mutter ein Haus hatte, und kamen mit Kisten voller Zigarettenstangen zurück.
Andreas überließ Björn Spohr die wenigen anderen Fälle, ging jede Nacht auf die Pirsch und schleppte ein Jüngelchen nach dem anderen ab.
Ewald Baginski erfuhr von der Sache aus den Nachrichten und meldete sich nicht.
Niemand redete mit Reportern, selbst Volkers Anrufe blieben unbeantwortet.
Die »Nonnen«, die beiden ältlichen Schwestern, die das ganze Personal des Guts darstellten, brauchten fast die ganze Woche, bis sie die letzten Blutspuren beseitigt und den Gestank vertrieben hatten.
Die Pachtbauern nutzten das schöne Wetter und waren sogar nachts auf den Feldern, um zu säen. Niemand traute dem Klima, jeder befürchtete den nächsten Kälteeinbruch mit Endlosregen.
Das BKA kündigte »die gründlichste Untersuchung an, die es je gegeben hat«, und machte dann die Schotten dicht. Der SPIEGEL wusste am Montag in einer Titelgeschichte zu berichten, das Video sei in einem passwortgesicherten Forum, in dem sich Perverse aus aller Welt tummelten, die »echte sadistische Videos (keine Fakes)« sehen wollten, als »erstes echtes Snuff-Video der Welt« für fünftausend Dollar zum Herunterladen angeboten worden. Snuff-Videos, in denen echte Morde mit sexuellem Hintergrund zu sehen sind, im Gegensatz zu Aufnahmen von Toten aus irgendwelchen Kriegs- oder Katastrophengebieten, waren seit Jahrzehnten ein Gerücht, aber bisher hatte niemand je wirklich eins zu Gesicht bekommen. Es sei mehrere hundert Mal heruntergeladen worden, jemand habe damit mindestens eine Million Dollar gemacht. Allerdings sei das Gesicht des Mannes unkenntlich gemacht worden, offenbar mit einem Verfahren, das einer der Nutzer rückgängig machen konnte, der es dann über diese Adresse auf Tuvalu für alle Welt verfügbar wieder ins Netz stellte. Dort war es natürlich längst gelöscht worden. Das BKA schließe eine Fälschung nicht aus.
Nachdem Ollie festgestellt hatte, dass keines seiner Geräte unreparierbaren Schaden genommen hatte, und sich mit Desirée anderthalb Tage durch die Aufzeichnungen der Wanzen und Positionsmelder hatte wühlen können, versammelten sich alle um ihn in seiner Bastelbude. Auch Professor Rind hatte wieder den weiten Weg aus Bad Emstal, wo er mit seiner Frau wohnte, auf sich genommen.
»Bei den verschiedenen Kaisers gibt es überhaupt nichts Verdächtiges«, erzählte Ollie. »Ganz normales Familienleben, außer den häufigen besorgten
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