Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
können. Meine Brüder gingen in ihre Zimmer hinauf, und ich blieb allein mit meiner Verzweiflung und meinem Kummer.
Wie würden meine Eltern wohl reagieren, wenn ich starb? Würde meine Mutter in Tränen aufgelöst sein und mein Vater sein Verhalten bereuen? Gerne hätte ich das geglaubt, aber es war auch das Gegenteil denkbar: Vielleicht wären sie froh, mich endlich los zu sein, da ich ihnen nur Sorgen bereitete!
Ich war eine schwere Last für meine Eltern. Und gewiss war das auch der Grund dafür, dass sie mich so schnell wiemöglich verheiraten wollten. Nach und nach begann ich, von meinem zukünftigen Ehemann zu träumen: »Wenn es doch der schöne junge Mann von nebenan wäre …«
Als ich mich am nächsten Morgen anzog, erklärte meine Mutter, ich müsse den Verband über meiner Brust nun nicht mehr anlegen.
»Da du ab jetzt das Haus nicht mehr verlässt, wird kein Fremder sehen, dass du eine Frau geworden bist. Und auch dein Vater wird sich nicht darüber aufregen. Es kann ja nichts passieren, wenn du bis zu deiner Hochzeit im Haus bleibst.«
In der Schule warteten meine beiden Freundinnen bereits ungeduldig auf mich, um mir mitzuteilen, welche Schule sie nach den Ferien besuchen würden. Rachida und Nabila waren im Gymnasium Sainte-Geneviève eingeschrieben, einer sehr renommierten Schule, die nur sehr guten Schülerinnen aus reichen algerischen Familien vorbehalten war.
»Ich hoffe, du kommst auch dorthin, Samia. Wir drei sind doch Freundinnen fürs ganze Leben«, beschwor mich Rachida.
»Leider kann ich nicht mit euch nach Sainte-Geneviève gehen«, erwiderte ich traurig.
»Warum denn nicht?«, wollte Nabila wissen.
»Weil mein Vater nicht will, dass ich noch länger in die Schule gehe.«
»Aber du bist doch die Beste von uns dreien!«
»Meine Eltern finden, dass ich genug gelernt habe.«
In Algerien nehmen viele Eltern, ganz unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status, ihre Töchter früh von der Schule.
»Für eine gute Muslimin gibt es drei heilige Orte: ihr Elternhaus, das Haus ihres Ehemanns und schließlich ihr Grab«, schärfte mir meine Mutter immer wieder ein. Wozu musste man da lesen und schreiben können?
»Was wirst du denn tun, wenn du nicht mehr zur Schule gehst?«, fragte Nabila mit Tränen in den Augen.
»Ich werde meinem Vater gehorchen und lernen, den Haushalt zu führen, bis ich heirate.«
»Heiraten? Wieso denn das? Dafür bist du doch noch viel zu jung!«
»Hat in deiner Familie noch nie jemand vom Heiraten gesprochen, Nabila?«
»Sicher. Aber meine Eltern wollen, dass ich studiere, bevor ich heirate.«
»Meine Eltern sagen das Gleiche«, bestätigte Rachida.
»Warum bin ich die Einzige, bei der das nicht so ist? Warum muss ich euch verlassen? Ihr seid das Beste in meinem Leben.«
Wir weinten alle drei, bis die Schwester Oberin uns nach dem Grund für unsere Traurigkeit fragte.
»Samias Vater nimmt sie von der Schule. Sie soll zu Hause bleiben«, schluchzten meine Freundinnen.
»Warum denn? Er wirkt doch wie ein gebildeter Mann. Möchtest du, dass ich mit deinem Vater rede, Samia?«
Ich flehte sie an, dies nicht zu tun, da ihre Einmischung alles nur noch schlimmer machen würde. Als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, umarmte ich traurig meine Freundinnen. Für mich brach eine Welt zusammen, und ich fand das alles furchtbar ungerecht. Aber sosehr ich meine Freundinnen auch beneidete, so glücklich war ich auch, dass sie von meinem Los verschont blieben.
Vor der Schule wartete wie gewöhnlich der Chauffeur auf mich. Er bemerkte meine roten Augen.
»Hast du geweint?«, fragte er sanft.
»Nein. Ich habe Staub ins Auge bekommen. Haben Sie eigentlich Kinder?«
»Ja, drei Töchter. Sie sind zwanzig, siebzehn und zwölf Jahre alt.«
»Zwanzig Jahre? Ist sie schon verheiratet?«
»Nein, noch nicht.«
»Wirklich? Aber warum denn nicht?«
»Ganz einfach, sie studiert noch. Wir sind arm, und ich will, dass meine Töchter auf eigenen Beinen stehen, denn das Leben heutzutage ist nicht einfach.«
»Ihre Töchter haben wirklich Glück mit ihrem Vater!«
»Du auch, mein Liebes. Du hast auch Glück, einen Vater wie Monsieur Shariff zu haben!«
»Ja, ich weiß«, erwiderte ich knapp.
Während ich ins Haus ging, dachte ich daran, dass der Chauffeur mein Liebes zu mir gesagt hatte. Es war das erste Mal, dass mich jemand so genannt hatte. Oft stellte ich mir die Frage: Nach welchen Gesichtspunkten wählt Gott die Eltern für ein Kind aus? Ist die Charakterstärke
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