Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
allein, aber das ist nicht das Wesentliche!«
»Was ist denn das Wesentliche? Du hast zu essen, wenn du hungrig bist, du hast ein schönes Zimmer, und du musst nicht für andere arbeiten.«
»Das ist nicht das Wesentliche, glaub mir! Ich habe alles, aber ich darf das Haus nicht verlassen, darf nicht arbeiten und nicht mit anderen Leuten verkehren wie du.«
»Du darfst das Haus nicht verlassen?«
»Ich darf das Haus nicht verlassen, ich darf mich nicht anziehen, wie ich will, und ich darf meine Haare nicht tragen, wie es mir gefällt.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich eine gute Ehefrau und Muslimin werden muss. Kein Mann darf mich ansehen, denn ich muss mich für meinen zukünftigen Ehemann rein halten.«
»Verlangen deine Eltern das von dir?«, fragte sie erstaunt.
»Ja. Sieht so etwa das Glück aus?«
»Nein, dann möchte ich nicht mit dir tauschen. Du tust mir wirklich sehr leid. Dann bist du auch in niemanden verliebt?«
»Scht! Sprich nicht so laut! Ich habe Angst, dass uns jemand hört. Doch, ich glaube, dass ich in jemanden verliebt bin.«
»Du kleine Heimlichtuerin! Wo ist er?«
»Er steht die ganze Zeit am Fenster und sieht mich an.«
»Wie romantisch! Wie heißt er denn? Wie alt ist er? Wie könnt ihr euch treffen, wenn du das Haus nie verlassen darfst?«
»Du wirst es albern finden, aber ich weiß weder seinen Namen noch sein Alter, denn ich habe noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Ich weiß, er ist beim Militär und schon fast dreißig Jahre alt.«
Selima lachte auf.
»Du hast noch nie mit ihm geredet und kennst nicht einmal seinen Namen! Woher weißt du dann, dass er dich liebt?«
»Ich weiß es einfach«, erwiderte ich verärgert. »Er stellt sich immer zur gleichen Zeit ans Fenster und blickt zu mir herüber. Ich finde ihn einfach wundervoll.«
»Deine Träume in allen Ehren! Aber glaub mir, das Entscheidende ist die Wirklichkeit. Soll ich ihm eine Botschaft von dir überbringen?«
»Nein, das ist viel zu gefährlich. Wenn meine Eltern das herausbekämen, würden sie mich umbringen.«
»Sind sie wirklich so streng?«
»Ja, denn für sie ist die Ehre das Allerwichtigste im Leben.«
»Du entehrst doch niemanden, wenn du mit einem Jungen sprichst«, wandte sie ein.
»So wie du die Dinge siehst, ist nichts Entehrendes dabei, aber für sie ist das anders. Ich darf auf gar keinen Fall ungehorsam sein.«
»Du Ärmste! Jetzt muss ich weiterarbeiten. Aber ich bin immer für dich da, wenn du mit mir reden möchtest.«
»Vielen Dank, Selima! Darüber bin ich sehr froh. Jetzt fühle ich mich nicht mehr so einsam.«
Ich trat ans Fenster in der Hoffnung, meinen Schwarm zu sehen, aber leider war er nicht da. Darüber war ich enttäuscht, denn schon sein Anblick tat mir gut. Ich malte mir Gespräche und leidenschaftliche Liebesszenen mit meinem schönen Prinzen aus. Auf diese Weise konnte ich der Grausamkeit meines Alltags entfliehen und mich für ein paar Augenblicke glücklich fühlen.
Meine Freundschaft mit der jungen Putzhilfe wurde immer enger, erregte aber den Argwohn meiner Mutter.
»Vergiss nicht, dass du die Tochter von Monsieur Shariff bist! Und die Tochter von Monsieur Shariff verkehrt nicht mit Putzfrauen. Außerdem könnte dieses Mädchen einen schlechten Einfluss auf dich haben. Hüte deine Gedanken und deine Vorstellungen! Du bist noch unschuldig, und ich will, dass du es bleibst. Nach deiner Hochzeit wirst du mit den Freundendeines Ehemanns verkehren – natürlich nur, wenn er es erlaubt.«
Während ich gemeinsam mit Selima mein Zimmer putzte, sprach ich heimlich mit ihr darüber. Sie war die Einzige im Haus, die sich dafür interessierte, wie es in meinem Herzen aussah.
Einige Tage später hatte meine Mutter eine gute Nachricht für mich: Ich sollte die Sommerferien in Frankreich bei einer Tante väterlicherseits verbringen, während der Rest der Familie zu unserem Ferienhaus bei Barcelona fuhr.
»Freust du dich?«
»Natürlich, Mama! Ich sehne mich so sehr nach Frankreich!«, erwiderte ich aufrichtig.
Urplötzlich stiegen meine Kindheitserinnerungen wieder in mir auf. Was für ein Glück würde es sein, meine beste Freundin Amina wiederzusehen! Seit langer Zeit war ich nicht mehr so beglückt gewesen, aber schon bald trübte Besorgnis meine Vorfreude. Warum nahmen mich meine Eltern erst von der Schule, um besser auf mich aufpassen zu können, und schickten mich nun so weit fort? Ich bat meine Mutter um eine Erklärung.
»Dein Vater will dir eine Freude
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