Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
des Kindes für seine Entscheidung ausschlaggebend? Glaubt er, dass das eine Kind mehr Glück als das andere verdient?
Ich wollte mein Schicksal begreifen, doch ich zermarterte mir den Kopf, ohne eine Antwort auf meine Fragen zu finden.
Wenn ich meine süße kleine Schwester beobachtete, fragte ich mich, welche Zukunft ihr wohl bevorstand. Sie wirkte so zart, und meine Eltern behandelten sie so grob! Stürzte die Kleine oder stieß sie sich, so machte meine Mutter sich nicht einmal die Mühe nachzusehen, wie schlimm sie sich verletzt hatte. Dann eilte ich zu ihr, um sie zu beruhigen und zu versorgen. Ich fühlte mich ihr aufs Innigste verbunden, denn wir waren die einzigen Mädchen in dieser traditionellen muslimischen Familie.
Ich wollte meinen Schulfreundinnen ein Abschiedsgeschenk mitbringen. An einem der letzten Schultage suchte ich zwei Musik-CD s aus, die ich sehr gern mochte. Als ich weggehen wollte, packte mein Vater mich am Arm.
»Wo willst du mit diesen CD s hin?«, fragte er.
»In die Schule«, antwortete ich verstört.
»Aha, in die Schule? Tanzt das Fräulein jetzt auch schon in der Schule?«, zischte er spöttisch.
Ich schüttelte den Kopf. Er verdrehte mir den Arm und befahl mir dann, in mein Zimmer zu gehen und dort auf ihn zu warten.
Was hatte ich um Himmels willen getan, um eine solche Strafe zu verdienen? Was erwartete mich nun? Ich weinte heiße Tränen. Als mein Vater in der Tür erschien, hielt er den langen, dünnen Stock in der Hand, mit dem er uns zu züchtigen pflegte. Ich musste zwischen dem Gürtel und dem Stock wählen. Ich flehte ihn an, mich nicht zu schlagen, und versprach, immer gehorsam zu sein und nie mehr Musik zu hören. Doch meine Tränen und Bitten blieben ohne jede Wirkung.
»Du Schauspielerin«, schrie er mich an. »Immer schon hast du uns gerne etwas vorgespielt! Ich fordere dich noch einmal auf, wähle jetzt zwischen dem Gürtel und dem Stock!«
Widerwillig wies ich auf den Gürtel. Mein Vater hob den Arm und ließ ihn, Schlag auf Schlag, etwa zehn Mal auf mich niedersausen. Es schien ihm richtiggehend Spaß zu machen! Anschließend riss er meine CD s an sich und brach sie entzwei. Dann verließ er mein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Ich hörte, wie er meine Mutter anschrie:
»Deine Tochter nimmt jetzt auch schon CD s mit in die Schule! Das also lernt man heutzutage in der Schule! Tanzen! Nun gut! Du wirst auch noch tanzen, wenn ich es dir befehle!«
Von diesem Tag an durfte ich nie wieder in die Schule gehen. Die Erde hatte aufgehört, sich zu drehen. Ich musste zu Hause bleiben, konnte meine Freundinnen nicht mehr sehen, und auch sonst durfte ich an nichts mehr teilnehmen. Mein Leben hatte keinen Inhalt mehr! Man hatte mir nicht einmal erlaubt, mich von meinen besten Freundinnen zu verabschieden. Und da ich ihre Adressen nicht kannte, würde ich nie wieder etwas von ihnen hören! Was würden sie von mir denken, da ich sie ohne jedes Abschiedswort verlassen hatte? Sie würden mich für egoistisch und gefühllos halten!
Ich verlor jede Orientierung und fühlte mich völlig verlassen. Oft weinte ich in meinem Zimmer über mein Schicksal. Je länger dieser Zustand anhielt, desto dringlicher empfand ich das Bedürfnis, meinen Kummer mit jemandem zu teilen. An einem Nachmittag, als meine Mutter in der Küche beschäftigt war, vertraute ich mich ihr an. Aber statt mich zu trösten, machte sie sich über meine rot geweinten Augen lustig.
»Ach, nun heult das Fräulein auch noch! Warum denn? Jetzt brauchst du nicht mehr früh aufzustehen, um in diese unglückselige Schule zu gehen! Außerdem ist alles deine Schuld! Warum musstest du auch diese CD s mitnehmen! Hör auf zu flennen und uns etwas vorzuspielen! Eines Tages wirst du deinem Vater und mir noch dafür danken, dass wir dich gut erzogen haben. Jetzt bist du noch jung und dumm und weißt nicht, was du tust.«
Sah so tatsächlich eine gute Erziehung aus?
Zwei Frauen halfen meiner Mutter bei der Hausarbeit. Eine von ihnen war Selima, ein siebzehnjähriges Mädchen, mit dem ich mich rasch anfreundete. Wir unterhielten uns über alles Mögliche.
»Was für ein Glück, Samia, dass du so ein schönes Zimmer für dich ganz allein hast! Ich schlafe mit meinen sieben Geschwistern in einem einzigen Raum, der nicht größer als deiner ist«, sagte Selima, während sie mein Zimmer putzte.
»Da täuschst du dich, denn ich habe noch nie in meinem Leben Glück gehabt! Ich habe zwar ein großes Zimmer für mich
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