Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
machen«, antwortete sie. »Aber du wirst folgsam sein und alles tun, was deine Tante von dir verlangt.«
»Was wird sie denn von mir verlangen?«
»Hör jetzt auf zu fragen. Du wirst alles zur rechten Zeit erfahren.«
Auch hier gab es also einen geheimen Grund, aber darüber wollte ich jetzt nicht nachgrübeln. Zu groß war meine Freude, das Land meiner Geburt wiederzusehen. Vielleicht, versuchte ich mir einzureden, wollte mein Vater ja auf diese Weise sein gewalttätiges Verhalten wiedergutmachen.
Meine Mutter half mir beim Kofferpacken.
»Du wirst dein schönes rotes Kleid brauchen.«
»Du wolltest doch nie, dass ich es trage, denn es ist ein wenig ausgeschnitten.«
»Na und! Nur die Dummen ändern nie ihre Meinung. Vergiss nicht, die passenden Schuhe einzupacken.«
Am Morgen der Abreise weckte mich mein Bruder Kamel.
»Du Glückliche! Du brauchst nicht zur Schule zu gehen, und außerdem darfst du nach Frankreich fahren. Wie gern würde ich mit dir tauschen!«
»Das nennst du Glück! Ich spüre, dass sich etwas über mir zusammenbraut. Hast du zufällig in letzter Zeit mitgekriegt, wie Mama über mich geredet hat?«
»Nein! Nur ein einziges Mal«, sagte er nachdenklich. »Es passte ihr nicht, dass du dich mit Selima unterhalten hast. Trotz allem finde ich, dass du wirklich Glück hast. Jetzt kannst du in Frankreich das Leben genießen!«
Ich nahm meinen Koffer und ging zu meinen Eltern hinunter. Als mein Vater mich sah, befahl er mir, mich umzuziehen, da meine Hose zu eng sei und meine Formen zeige. Ich gehorchte, um ihn nicht zu erzürnen. Dann verabschiedete ich mich von meinen Brüdern und umarmte meine kleine Schwester, aber meine Mutter blieb auch jetzt reserviert.
»Benimm dich so, dass ich stolz auf dich sein kann«, schärfte sie mir lediglich ein. »Hör auf deine Tante! Sie wird mich über alles, was du tust, auf dem Laufenden halten. Los jetzt! Lass deinen Vater nicht warten!«
Als ich zum Auto ging, ergriff mich eine tiefe Traurigkeit. Zum ersten Mal stand mir eine Trennung von meiner Familie bevor. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass meine Mutter mich zum Abschied in ihre Arme schloss. Seit meiner Geburt hatte ich nie ein zärtliches Wort von ihr gehört. Immerzu wiederholte sie: »Samia, hör auf deinen Vater; Samia, hör auf deine Mutter!« Und jetzt hieß es: »Samia, hör auf deine Tante!« Was war mit mir? Wer hörte auf mich?
Im Rückspiegel begegnete mein Blick dem meines Vaters. Hastig wich ich ihm aus und sah zu Boden. Doch er nutzte die Gelegenheit, um mir ins Gewissen zu reden.
»Glaub ja nicht, dass jetzt, da du allein nach Frankreich fährst, alles erlaubt ist. Dein Vater hat seine Augen überall, verstehst du?«
Wie erstarrt saß ich auf meinem Sitz. Was befürchtete er, was ich dort tun konnte? Ich hatte nur eines im Sinn: Ich wollte die Freundin meiner Kindheit in die Arme schließen. Und ich freute mich darauf, das Viertel wiederzusehen, in dem ich aufgewachsen war. Mit einem Mal wurde mir klar, dass meine Kindheit glücklicher gewesen war als meine Jugend.
Ich war völlig verwirrt. Einerseits konnte ich es nicht erwarten, den ständigen Druck, dem ich hier ausgesetzt war, hinter mir zu lassen. Aber andererseits konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass man mich mit dieser Reise loswerden wollte. Und das schmerzte mich.
Am Flughafen half mir mein Vater, die Formalitäten zu erledigen. Menschen unterschiedlichster Nationalitäten schwirrten um mich herum. Mein Vater befahl mir, in seiner Nähe zu bleiben, doch während wir auf den Abflug warteten, blickte ein junger Mann im Vorbeigehen zu mir herüber.
»Sieh dir diesen schmutzigen Lumpen an! Je mehr du dich von den Männern fernhältst, desto besser für dich! Glaub mir! Wann werde ich endlich ruhig schlafen können? Gott allein weiß es! Ich muss auf dich achten, und später werde ich auf deine Schwester aufpassen müssen … Wie glücklich wäre ich, wenn ich nur Söhne hätte! Ich habe es so satt, verstehst du! Geh jetzt, es ist Zeit. Vergiss niemals, dass dein Vater seine Augen überall hat! Was immer du tust, ich werde es erfahren!«
An der Schranke sah ich mich noch einmal um und wollte ihm zuwinken, doch er hatte sich schon entfernt. Im Wartesaal hielt ich den Blick gesenkt, denn es schien mir, als sähen alle zu mir herüber und als überwache mein Vater mich schon jetzt.
Im Flugzeug saß ein etwa fünfzigjähriger Mann neben mir. Da er so viel älter war, hätte dies nicht den Unmut meines
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