Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
ihre Brüder ins Bett zu bringen, denn ich musste noch ein paar Dinge mit dem Hotelbesitzer klären.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er zuvorkommend.
»Wir verlassen das Hotel morgen Früh, und ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Reservieren Sie uns die beiden Zimmer noch für achtundvierzig Stunden – nur für den Fall, dass wir umkehren müssen oder die Kinder allein zurückkommen.«
»Was soll das heißen? Es ist jetzt doch alles geklärt mit den Ämtern, oder? Zahlen sie nun doch nicht?«, fragte er argwöhnisch.
»Auf jeden Fall, Monsieur. Wir reisen in ein anderes Land. Wenn alles klappt, werden Ihnen die beiden Zimmer noch eine Woche bezahlt, ohne dass sie besetzt sind. Wenn Sie wollen, können Sie sie dann sogar ein zweites Mal vermieten. Falls wir jedoch in den nächsten achtundvierzig Stunden zurückkommen müssen, werden wir weiter hier wohnen.«
»Einverstanden, Samia. Ich wünsche ihnen viel Glück für Ihre Reise.«
Er hätte gerne mehr darüber erfahren, aber es schien mir ratsam, ihn nicht in unseren Plan einzuweihen. So wünschte ich ihm lediglich eine gute Nacht.
Ein aufwühlender Tag lag hinter uns! Heute waren wir noch aufgeregter als am Vorabend unserer Abreise aus Algerien. Dieses Mal waren wir nicht auf der Flucht, sondern hatten uns für ein neues Leben in Freiheit und Sicherheit entschieden. Nur die drei Jungen fanden in dieser Nacht Schlaf, denn sie konnten die Tragweite der bevorstehenden Veränderungen noch nicht begreifen.
Nachdem wir am nächsten Morgen unser Gepäck in die Eingangshalle hinuntergetragen hatten, verabschiedete ich mich ohne Bitterkeit von dem Hotelbesitzer und seiner Frau. Die Zwillinge aber hielten sich ängstlich im Hintergrund. Sie konnten es nicht erwarten, dass wir den Mann verließen, der ihre Mama bedroht hatte.
Zwei Taxis brachten uns zum Bahnhof, wo Redwane bereits auf uns wartete. Er begleitete uns bis zum Bahnsteig. Mit Tränen in den Augen verabschiedeten wir uns voneinander. Seine Worte berührten mich zutiefst.
»Anfangs empfand ich nur Solidarität mit euch, weil wir alle Ausländer sind, die in Frankreich leben. Aber mit der Zeit seid ihr beinahe zu meiner Familie geworden. Ihr werdet mir sehr fehlen. Ich werde für das Gelingen eurer Reise beten. Versprecht mir bitte, dass ihr mir Bescheid gebt, wenn ihr in Montréal seid!«
Natürlich würde ich ihn anrufen – wenn alles gut verlief …
Wir verließen Frankreich mit der Erinnerung an die angenehmen und unerfreulichen Momente während des letzten Jahres. Wir wollten die Rückschläge und Enttäuschungen vergessen und nur die Erinnerung an gute Menschen wie Rachid, Monsieur Wodeck und Redwane bewahren.
Den Jungen wurde die Zeit lang. Da sie nichts zu tun hatten, kam es immer wieder zu kleinen Streitereien, die ich und meine Töchter schlichten mussten. Sie verlangten nach einem richtigen Bett, bis sie schließlich doch einschlummerten.
Als sie wieder aufwachten, hielt es sie immer weniger auf ihren Plätzen. Sie streiften herum und unterhielten sich mit anderen Reisenden. Als jemand ihre Namen und ihr Alter wissen wollte, antworteten sie nicht und fragten mich um Rat.
»Sollen wir ihnen unseren richtigen Namen oder den anderen Namen sagen, Mama?«
»Hier kannst du ruhig deinen richtigen Namen nennen, mein Liebling! Ich werde euch sagen, wenn ihr die anderen Namen benutzen müsst.«
Allmählich wurde es dunkel. An der spanischen Grenze mussten wir in einen alten Bummelzug einsteigen, der sich nur sehr langsam fortbewegte. Die Kinder waren gerade wieder eingeschlafen, als wir in Barcelona ankamen. Mürrisch und unwillig stiegen sie aus. Sie brauchten dringend ein Bett, um endlich richtig schlafen zu können.
So betrat ich im Oktober 2001 mit meiner Familie zum ersten Mal spanischen Boden. Melissa entdeckte Ähnlichkeiten mit Algerien: Die Architektur und die Farbe der Häuser erinnerten sie an ihre alte Heimat, außerdem war es hier wärmer als in Paris.
16. Barcelona
Wegen unserer sperrigen Koffer sahen wir uns gezwungen, zwei Taxis zu suchen. Ich bat den Chauffeur meines Wagens, uns zu einem einfachen Hotel in der Nähe des Bahnhofs zu fahren. Er beriet sich auf Spanisch mit dem Fahrer des zweiten Taxis. Schließlich setzten sie uns vor einem prächtigen Hotel ab, das mir sogleich zu teuer für uns erschien. Vermutlich hatten die beiden mich auch beim Preis für die Fahrt übers Ohr gehauen, da ich den Wert der Peseta nicht kannte. Redwane hatte mich gewarnt, aber nun
Weitere Kostenlose Bücher