Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
andere. Ihr solltet seinem Rat folgen!«
»Wo sollen wir dann aufbrechen?«
»Geht nach Barcelona! Von dort könnt ihr auch nach Montréal fliegen!«
»Unser Geld reicht kaum für die Tickets nach Montréal, wie soll ich da auch noch den Flug nach Barcelona bezahlen?«
»Fahrt mit dem Zug, das ist billiger. Ich wünsche euch von ganzem Herzen Glück.«
Anschließend verließ Redwane meine Tochter und mich. Jede von uns hing ihren eigenen Gedanken nach. Wir waren dem Ziel so nah, doch jetzt wurde die Sache immer komplizierter! Der Rat schien mir sehr vernünftig, aber ich wusste nicht, wie ich diese unvorhergesehenen Ausgaben bezahlen sollte.
Norah holte mich in die Wirklichkeit zurück, indem sie meine Aufmerksamkeit auf einen alten, ärmlich gekleideten Mann lenkte, der uns durchs Fenster anstarrte.
»Was will er von uns?«, fragte sie leicht beunruhigt.
»Ich weiß nicht, vielleicht hat er Hunger.«
»Mama, jetzt betritt er das Café und kommt direkt auf uns zu«, flüsterte sie mir erschrocken zu.
Der Mann kam näher und musterte uns eine Weile. Sein Blick wirkte gütig und heiter. Diesen so bedürftig aussehenden Mann umgab eine seltsame Atmosphäre. Er schien den Lauf der Zeit angehalten zu haben, um uns in eine andere Dimension zu führen. Auch Norah spürte die Magie dieses Augenblicks, denn sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
Endlich entschloss sich der Mann, uns anzusprechen.
»Hätten Sie zwanzig Franc für mich, damit ich mir etwas zu essen kaufen kann?«, fragte er und streckte uns bittend die Hand entgegen.
Seine Geste berührte mich so, dass ich ihm fünfzig Franc gab. Schließlich wusste ich nur zu gut, was es hieß, arm zu sein. Er ergriff meine Hand, um mir zu danken. Doch dann hielt er sie einen langen Augenblick fest und sah mir in die Augen. Dieser Moment hatte etwas Feierliches, und wir hingen wie gebannt an seinen Lippen.
»Ich danke dir. Du bist dabei, etwas sehr Gefährliches zu wagen, das spüre ich.«
Bei diesen Worten fuhr Norah auf.
»Dieser Schritt wird euer ganzes Leben verändern! Es ist völlig normal, dass du Angst davor hast! Aber nur Mut! Gott wacht über dich und deine Kinder! Mit seiner Hilfe wirst du dein Ziel erreichen. Hab Vertrauen!«
Dann ließ er meine Hand los, verabschiedete sich und ging seiner Wege, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen.
Wir blieben sprachlos zurück. Wie konnte dieser Mann unsere Pläne kennen? Woher wusste er, dass ich in ständiger Angst lebte und mich gerade jetzt in einer schier auswegslosen Lage befand? Ich wusste, dass es auf diese Fragen keine Antwort gab. Es hatte keinen Sinn, nach rationalen Erklärungen zu suchen. Diese Begegnung war uns zuteil geworden wie ein gesegneter Augenblick. Sie tat mir gut, denn sie schenkte mir mehr Zuversicht und inneren Frieden. Noch heute denke ich in Momenten der Verzweiflung an die Worte dieses Bettlers und fühle mich besser!
»Ich glaube, dass dieser Mann geschickt wurde, um uns Mut zu machen, Norah. Ich bin jetzt viel fröhlicher, obwohl ich eigentlich nicht weiß, warum!«
»Mir geht es genauso! Das ist sicher ein Wink des Schicksals oder eine Botschaft von Gott!«
Wie auf einer Wolke gingen wir leichten Schrittes zum Hotel zurück. Norah holte mich schließlich in die Wirklichkeit zurück:
»Wie sollen wir also die Zugfahrkarten bezahlen, Mama? Hast du irgendeine Idee?«
»Vielleicht könnten wir uns Geld leihen …«
Ich vollendete den Satz nicht, so verwegen klang mein Vorschlag!
Auch beim Einschlafen ging mir dieses Problem nicht aus dem Sinn. Wenn ich keine Lösung fand, würde es sehr schwierig werden, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Mitten in der Nacht wachte ich auf, und ein ganz klares Bild stand mir vor Augen: Ich sah den wundervollen Ring, den meine Großmutter mir geschenkt hatte. Vor meiner Abreise nach Frankreich hatte ich ihn sorgfältig im Futter einer kleinen Tasche eingenäht.
Sogleich stand ich auf und zog das alte Täschchen aus meinem Reisekoffer, wo es seit über einem Jahr lag. Zentimeter für Zentimeter tastete ich es ab, bis ich das Schmuckstück wiederfand.
Es war ein wundervoller Ring mit einem großen Diamanten, der von mehreren kleineren eingefasst war. Mit Tränen in den Augen schob ich den Ring an meinen Finger. Dieser wohltätige Ring erinnerte mich an meine Großmutter, eine warmherzige und liebevolle Frau, bei der ich mich immer geborgen gefühlt hatte. Erfüllt von diesen Erinnerungen schlief ich rasch ein.
Ich hatte
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