Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
hatte sie mich stets in den Arm genommen und getröstet, als sei sie meine große Schwester. Nun fielen wir einander überglücklich in die Arme. Im selben Augenblick erschien meine Tante und forderte uns auf, im Wohnzimmer auf sie zu warten.
Meine Freundin spürte, dass ich etwas auf dem Herzen hatte.
»Was ist los? Erzähl es mir!«
»Sie wollen mich verheiraten«, antwortete ich mit Tränen in den Augen.
»So etwas! Du bist doch erst fünfzehn Jahre alt. Welcher Mann könnte ein so zartes Mädchen wie dich heiraten wollen?«
»Er arbeitet für meinen Vater und war heute Nachmittag hier, um mich anzusehen.«
»Kennst du ihn?«
»Nein! Ich habe mich nicht einmal getraut, ihn anzusehen.«
»Ich hoffe, du hast dich geweigert, ihn zu heiraten!«
»Es blieb mir keine andere Wahl, als einzuwilligen. Ich darf meinem Vater nie widersprechen, denn er würde mich töten, wenn ich ihm nicht gehorche.«
»Du wirst es also tun?«
»Es bleibt mir nichts anderes übrig, glaub mir! Ich habe solche Angst.«
Da Amina sah, wie aufgewühlt ich war, bot sie mir an, die Nacht bei mir zu verbringen. Zu meiner großen Überraschung war meine Tante einverstanden – unter der Bedingung, dass ich meine Freundin danach nie mehr traf und meine Zustimmung zu der Heirat nicht rückgängig machte. Ich hätte alles versprochen, um noch ein paar Stunden mit meiner Freundin zusammen sein zu können.
Jetzt setzten wir unser Gespräch umso eifriger fort.
»Meine arme Samia«, sagte Amina mitfühlend, »warum hast du eingewilligt? Das ist eine wichtige Entscheidung! Du wirst dich eingesperrt fühlen und dein ganzes Leben lang unglücklich sein, wenn du deinen Mann nicht liebst. Da du ihn überhaupt nicht kennst, weißt du auch nichts über seine Vorzüge und seine Fehler. Es ist schließlich dein Leben und nicht ihres. Sag ihnen, dass du dich geirrt hast und keinen Mann heiraten willst, den du nicht selbst gewählt hast. Das war zur Zeit unserer Mütter so, aber jetzt leben wir im Jahr 1978! Ich werde eine Sozialarbeiterin fragen, die ich kenne. Sie wird dich aus ihren Klauen befreien.«
»Tu das bitte nicht, Amina! Ich will keine Probleme mit meiner Familie haben. Sie sind zu allem fähig.«
»Wie kannst du sie dann › Familie ‹ nennen? Siehst du nicht, dass sie dabei sind, dich lebendig zu begraben?«
»Das ist mir völlig klar. Trotzdem flehe ich dich an, nichts zu unternehmen. Denn dann hätte ich nur noch größereSchwierigkeiten. Außerdem habe ich meiner Tante versprochen, meine Entscheidung nicht rückgängig zu machen. Lass uns jetzt nicht mehr darüber reden. Erzähl mir lieber etwas von dir.«
»Nun gut! Ich habe einen Freund. Wir werden irgendwann heiraten, aber zurzeit wohne ich noch bei meinen Eltern. Wir sehen uns mehrmals die Woche und sind wahnsinnig verliebt.«
»Wie ich dich beneide! Du scheinst sehr glücklich zu sein! Diese Chance werde ich sicher nie in meinem Leben bekommen.«
»Warst du denn noch nie verliebt?«
»Ich habe nie einen Jungen kennengelernt, denn das ist bei uns verboten. Vielleicht bin ich sogar verliebt, aber ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist. Ich fühlte mich sehr zu einem Mann hingezogen, den ich in Algier von meinem Fenster aus beobachten konnte.«
»Das ist keine Liebe, Samia. Wie du selbst gesagt hast, fühltest du dich nur zu ihm hingezogen. Ich wünsche dir, dass du zumindest einmal im Leben die wahre Liebe kennenlernst.«
»Ich weiß nicht, wie das gehen soll, da ich immer bei meinen Eltern oder meinem Ehemann sein werde! Ich hätte mir so sehr gewünscht, einen Mann zu heiraten, den ich liebe!«
Wir schwatzten und lachten die ganze Nacht hindurch wie andere junge Mädchen auch. Am nächsten Morgen wurden wir erst wach, als meine Tante ins Zimmer kam.
»Los jetzt, Mädchen, steht auf! Amina, deine Mutter hatte dich gebeten, um acht Uhr zu Hause zu sein. Da bleibt dir gerade noch Zeit, dich zu waschen.«
Als meine Tante das Zimmer wieder verlassen hatte, äffte Amina ihre Stimme und ihre Gesten nach. Wir mussten beide lachen.
Während meine Freundin im Bad war, wollte meine Tante wissen, ob ich ihr von meiner Heirat erzählt hatte. Ich verneinte.
»Das hast du gut gemacht. Möglicherweise wäre sie eifersüchtig gewesen, weil du vor ihr heiratest. Hüte dich vor solchen Frauen. Und jetzt wirst du dein Versprechen halten und sie nicht wiedersehen.«
»Ja, Tante. Sie fährt sowieso heute Nachmittag zu ihrer Tante nach Lyon.«
»Umso besser! Das trifft sich gut!
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