Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Nacht wird dir Klarheit bringen!«
In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. In meinem Kopf herrschte ein großes Durcheinander. Ich war wütend auf meine Eltern. Wie konnten sie mir eine solche Zukunft aufzwingen, obwohl ich immer folgsam gewesen war? All die Jahre hatte ich stillgehalten, damit sie sich nicht über mich zu beklagen hatten. Irgendwann überschwemmte eine unendliche Traurigkeit meine Wut. Warum wollten sie mich auf diese Weise loswerden? Ich hätte es so gerne verstanden! Es gab niemanden, der mich hätte trösten können. Ich wollte mich meiner Freundin anvertrauen und sie um Rat bitten. Aber im Augenblick war ich ganz allein und völlig verzweifelt.
Wer mochte dieser junge Mann sein? Wie konnte er eine Frau heiraten, die er noch nie gesehen hatte?
Ich dachte an das seltsame Gespräch, das ich mit meiner Tante geführt hatte, und einige Wortfetzen gingen mir noch einmal durch den Kopf.
»Darf ich dich etwas fragen, Tante?«
»Natürlich, meine hübsche Braut.«
»Ich mag es nicht, wenn du mich so nennst.«
»Du hast recht. Noch bist du keine Braut, aber es wird nicht mehr lange dauern.«
»Was würde geschehen, wenn ich diesen Mann abweise?«
»Das würde ich dir nicht empfehlen, mein Liebes! Ich will ganz offen zu dir sein. Du hast keine Wahl. Deine Eltern kennen diesen jungen Mann, denn er ist hier in Frankreich für deinen Vater tätig. Wie du stammt er aus Algerien. Dein Vater schätzt seine Arbeit. Abdel Adibe ist ein ehrenwerter Mann.«
»Aber das ist doch kein Grund, mich zur Heirat mit ihm zu zwingen«, begehrte ich auf.
Doch ich spürte, dass mein Widerstand vergeblich war. Je öfter ich mir die Szene vor Augen hielt, desto auswegloser schien mir meine Situation.
Inzwischen ging bereits die Sonne auf, und ich war noch erschöpfter als am Tag zuvor. Die Nacht hatte mir keine Klarheit gebracht.
»Aufstehen«, befahl meine Tante barsch. »Du ziehst das hübsche rote Kleid und die passenden Schuhe an, die deine Mutter für dich ausgewählt hat, und dann kommst du zu mir.«
Dieses teure rote Kleid! Meine Mutter hatte es also für die Begegnung mit einem möglichen Ehemann gekauft! Ich war außer mir. Alle hatten von diesem Plan gewusst, nur ich nicht. Zuvor hatte ich davon geträumt, das Kleid zu tragen. Jetzt aber fand ich es hässlich, denn es war der sichtbare Beweis der Machenschaften, die gegen mich im Gang waren. Ich kam mir vor wie eine Puppe, die man in ein hübsches Kleid steckt, um sie auf dem Markt feilzubieten.
Als meine Tante mich sah, rief sie aus:
»Seht doch nur! Er wird von deiner Schönheit hingerissen sein, mein Liebes! Wir könnten den Preis heraufsetzen!«
»Von welchem Preis sprecht ihr?«
»Er wird dir ein schönes, wertvolles Schmuckstück schenken müssen, wenn er dich heiraten will. Auf diese Weise zeigt er, welche Ehre es bedeutet, dass dein Vater ihm deine Hand gibt. Du musst wissen, dass es ein besonderes Privileg ist, die Tochter von Monsieur Shariff zu heiraten. Vielleicht bekomme ich sogar ein kleines Geschenk als Aufwandsentschädigung!«
Alles ging seinen Gang, ohne dass ich, um deren Schicksal es ja eigentlich ging, irgendetwas hätte unternehmen können. Ich durfte lediglich zuhören und tun, was man von mir verlangte. Also konnte ich nur zu Gott beten, dass ich diesem Mann nicht gefiel und er es ablehnte, mich zu heiraten.
Als es an der Tür klingelte, ergriff mich Panik. Ich musste in der Küche warten, bis man mir auftrug, den Kaffee ins Wohnzimmer zu bringen. »Vergiss auf keinen Fall, ihn zu begrüßen«, hatte meine Tante mir eingeschärft.
Ich zitterte, und kalter Schweiß brach mir aus allen Poren. Da ich mich außerstande sah, das Tablett unbeschadet ins Zimmer zu tragen, rief ich nach meiner Tante. Sie zeigte wenig Mitgefühl.
»Was spielst du uns für eine Komödie vor? Deine Mutter hat mich gewarnt. Spritz dir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht, dann wirst du dich gleich besser fühlen. Es ist bestimmt nur die Aufregung!«
Sie musterte mich noch einmal von allen Seiten. Offenbar fand sie, dass ich ziemlich blass war, denn sie holte einen Lippenstift.
»Was machst du da? Meine Mutter würde mich umbringen, wenn sie mich mit Lippenstift sähe!«
Doch sie ließ sich nicht beirren und meinte lächelnd:
»Mach dir deshalb keine Sorgen. Deine Mutter hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass du schön aussiehst und deinzukünftiger Ehemann gerne in die Heirat einwilligt. Bereite dich auf deinen Auftritt vor, mein Liebes. Gleich ist
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