Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
überall brachte er mich mit dem Auto hin. Er verbot mir, Hosen zu tragen, und meine Kleider mussten die Knie bedecken. Er unterdrückte mich immer mehr und behauptete, dass dies dem Willen Allahs entspreche.
Beim Trinken kümmerte er sich allerdings nicht um die Gebote Gottes. Für gläubige Muslime stellt der Genuss von Alkohol eine der schlimmsten Sünden dar. Und immer wenn er trank, mussten wir es büßen.
Die Lebensumstände in Algerien hatten sich in den letzten Jahren sehr verschlechtert. Der Terror der Fundamentalisten war allgegenwärtig im Land, und eine rigide, rückschrittliche Geisteshaltung war überall zu spüren. Mein Vater und meine Brüder waren nun noch starrsinniger und strenggläubiger alsfrüher. Ein solches Leben wollte ich meinen Töchtern nicht zumuten.
Also erklärte ich meinem Ehemann, dass ich wegen unserer Töchter in Frankreich bleiben wollte. Darauf drohte er, mich umzubringen und mit meinen Töchter zu fliehen. Er beklagte sich bei meinem Vater darüber, dass ich mich immer mehr vom Glauben entfernen würde und keinen Respekt vor unseren Traditionen hätte.
Der Anruf meines Vaters folgte prompt. Er war außer sich.
»Hör mir gut zu, Samia! Wenn du deinem Mann nicht nach Algerien folgst, werde ich nach Frankreich kommen und dir eigenhändig die Kehle durchschneiden!«
Ich hatte so lange wie möglich gezögert, meine Töchter von Abdels Plänen zu informieren, denn ich fürchtete mich vor ihrer Reaktion, vor allem vor der meiner großen Tochter. Und ich haderte mit mir selbst, weil ich es nicht geschafft hatte, mich durchzusetzen und diese Abreise zu verhindern. Wie gerne hätte ich meinen Töchtern das Beispiel einer starken Frau gegeben! Stets hatte ich es besser verstanden, die blauen Flecken durch Lügen zu erklären, als mich vor Schlägen zu schützen!
Als Norah von der Entscheidung ihres Vaters hörte, brach sie in Schluchzen aus. Sie flehte mich an, meinen Mann allein nach Algerien gehen zu lassen. Denn wir drei würden hier bestimmt sehr gut allein zurechtkommen. Wie gerne wäre ich ihrem Wunsch gefolgt, doch ich fühlte mich nicht dazu in der Lage. Es gab Augenblicke, in denen ich mich selbst verfluchte, weil ich meinem Mann und meinen Eltern die Macht eingeräumt hatte, meine Träume zu zerstören, mich zu zerstören und nun womöglich sogar meine Töchter zu zerstören.
Mein Vater schenkte uns ein Haus in dem Stadtteil von Algier, wo meine Familie lebte. Da man in Frankreich besser einkaufen konnte, hatte ich beschlossen, einige Einrichtungsgegenstände und Möbel dort vor meiner Abreise zu erwerben und sie dann nach Algerien schicken zu lassen. Diese Suche nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Ich bezahlte jeden Einkauf, doch die Rechnungen waren stets auf den Namen meines Mannes ausgestellt. Bei meinen Eltern brauchte ich mich darüber gar nicht erst zu beklagen, denn ihre Antwort kannte ich bereits: Das Geld der muslimischen Frau gehört ihrem Ehemann. Macht sie Ansprüche geltend, setzt sie ihren Platz im Paradies aufs Spiel und wird hier auf Erden als unrein angesehen, sodass kein Mann mehr Verantwortung für sie übernehmen will.
Unsere bevorstehende Abreise lastete schwer auf mir. Was konnten meine Töchter und ich uns von einem Leben in Algerien, ganz in der Nähe meiner Familie, erhoffen? Im Grunde erhoffte ich gar nichts und fürchtete, dort noch mehr leiden zu müssen. Doch mir fehlte die Kraft zu handeln. Ich gehorchte, um meinen Frieden zu haben!
Mehrmals hatte ich erwogen, mich hilfesuchend an die französischen Behörden zu wenden, aber letztlich fürchtete ich mich vor den Konsequenzen. Die namenlose Angst vor meiner Familie und meinem Ehemann beherrschte mein Denken und verhinderte jeden vernünftigen Entschluss. Ich hatte noch nie Entscheidungen dieser Art getroffen und fühlte mich auch nicht in der Lage dazu. Immer noch war ich das kleine Mädchen, das von den Erwachsenen kontrolliert wurde!
Norah war sehr niedergeschlagen. Sie wollte dieses Land, ihr Land, nicht verlassen. Sie hing sehr an ihren Freundinnen und wollte weder auf ihre Lebensgewohnheiten noch auf das friedliche Dasein in Frankreich verzichten. Hier konnte ich viele Probleme einigermaßen von ihr fernhalten. Ich hatte stets versucht, ihr das Leben einer ganz normalen Jugendlichen ihres Alters zu ermöglichen, und ihr dabei auch manches erlaubt, ohne ihren Vater zu informieren. Das wurde mirimmer wieder zum Verhängnis, denn mein Ehemann machte mich für jedes Fehlverhalten unserer
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