Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Tochter verantwortlich, ganz gleich ob es sich um Kleinigkeiten oder größere » Vergehen « handelte.
Jetzt kam Norah jeden Nachmittag weinend nach Hause. Ihre Freundinnen flehten sie an hierzubleiben, denn sie verstanden nicht, dass ein Mädchen ihres Alters gezwungen werden konnte, seiner Familie zu folgen. Mir fiel auf, wie sehr Norah mir ähnelte. Auch wenn sie nicht einverstanden war, fand sie sich mit den Entscheidungen ab, die ihr aufgezwungen wurden.
Melissa, die damals acht Jahre alt war, konnte die ganze Tragweite dieser Veränderungen noch nicht ermessen.
»Hauptsache, wir bleiben alle zusammen. Dann wird alles gut, egal ob hier oder dort unten«, meinte sie lächelnd. »Wir haben uns als Familie, und neue Freundinnen finde ich sicher auch dort. Und wir können Opa und Oma viel öfter sehen.«
Ein paar Tage vor unserer Abreise informierte ich meine Freundinnen und die Frauen, mit denen ich zusammenarbeitete. Ihr Mitgefühl rührte mich zutiefst. Meine engsten Freundinnen wiesen mich besorgt auf die Gefahren des Terrorismus hin, der Mitte der neunziger Jahre Algerien beherrschte. Warum nur schenkte ich ihren Warnungen nicht mehr Gehör? Wenn ich heute daran zurückdenke, scheint es mir, als hätte mich der ständige Terror in meinem Alltag daran gehindert zu sehen, welcher Terrorismus dort im ganzen Land wütete!
9. Meine Rückkehr nach Algerien
Am 13. Juli verließen wir Frankreich auf einem Schiff nach Algerien.
»Freitag, der dreizehnte! Das wird uns Unglück bringen, Mama!«, wiederholte Norah zu allem Überfluss.
»Es wird uns nichts geschehen, mein Liebling. Wir kehren in das Land unserer Vorfahren zurück, und ich werde alles dafür tun, dass du dort glücklich bist. Du wirst hervorragende Schulen besuchen und ein Leben führen, wie du es dir erträumst!«
Ich machte meiner Tochter schöne Versprechungen, ohne zu wissen, ob ich stark genug war, sie auch einzulösen. Nur eines stand für mich fest: Die Freiheit meiner Töchter würde ich schützen, ganz gleich um welchen Preis!
Als gute muslimische Ehefrau hatte ich meinem Ehemann um des lieben Friedens willen ein prächtiges Auto gekauft, sein Traumauto , wie er sagte. Es wurde ebenfalls auf unser Schiff verladen.
Unsere Überfahrt dauerte vierundzwanzig Stunden. Je mehr die Zeit verstrich, desto größer wurde meine Angst. Meine Töchter sollten glauben, dass ich mich auf mein neues Leben freute, aber …
Ich sah den beiden beim Spielen auf dem Schiffsdeck zu, als eine junge Frau mich ansprach.
»Guten Tag, ich heiße Amira und fahre auf Urlaub in unserLand. Man sagt, es gibt dort schwere Unruhen, und die Lebenshaltungskosten haben sich verdoppelt. Gott sei mit unseren Brüdern und Schwestern in Algerien! Es gehört sicher sehr viel Mut dazu, dieses Leben auszuhalten!«
»Guten Tag, Amira! Ich heiße Samia und werde dieses Leben nun sehr bald kennenlernen! Vielleicht habe ich ja einmal Gelegenheit, Ihnen zu erzählen, wie man damit zurechtkommt!«
»Bleiben Sie in Algerien?«, fragte die junge Frau erstaunt.
»Genau so ist es, Amira. Mein Ehemann hat beschlossen, in unsere Heimat zurückzukehren. Ich gestehe, dass ich ihn gegen meinen Willen begleite.«
»Gegen Ihren Willen? Das müssen Sie mir erklären! Heutzutage kann man uns doch nicht mehr zu Dingen zwingen, die wir nicht wollen!«, bohrte sie nach.
»Mein Ehemann ist gewalttätig, und mein Vater ist noch schlimmer. Ich lebe in ständiger Angst. Seit meiner Kindheit wird mein ganzes Leben kontrolliert.«
»Wenn das schon in Frankreich so war, wird es in Algerien noch tausendmal schlimmer kommen. Kehren Sie mit Ihren Töchtern nach Frankreich zurück, solange noch Zeit ist! In diesem Land kann eine Frau umgebracht werden, ohne dass sich irgendjemand darum kümmert! In Frankreich können Sie immerhin Unterstützung von den Behörden erwarten, in Algerien ganz und gar nicht!«
»Es war mir nicht klar, wie sehr sich die Situation hier zugespitzt hat. Wie werde ich für die Sicherheit meiner Töchter sorgen können? Was soll ich nun tun? In nicht einmal einer Stunde legen wir an. Allmählich begreife ich, wie naiv ich war, diese Entscheidung meiner Familie und meines Ehemannes zu akzeptieren. Aber allein fühle ich mich ihnen gegenüber so ohnmächtig!«
Ich begann zu weinen. Diese junge Frau hatte mir das ganze Ausmaß meiner Ahnungslosigkeit vor Augen geführt.Ich wollte zurück, aber ich saß in der Falle. Jetzt bereute ich, dass ich immer nur stillgehalten und nichts
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