Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
unternommen hatte … Wie naiv und schwach ich doch gegenüber meiner Familie war! Durch meine Einwilligung, nach Algerien zu gehen, war ich nun verantwortlich für alles, was meinen Töchtern hier widerfahren würde.
»Geben Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer, Samia! Wenn ich nach dem Urlaub wieder in Frankreich bin, werde ich sehen, was ich für Sie und Ihre Töchter tun kann. Fürs Erste wünsche ich Ihnen viel Mut. Möge Gott Ihnen helfen!«
Amira ließ mir zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer. Sollte unsere Lage unerträglich werden, würde sie uns helfen. Ich gab ihr die Adresse meiner Eltern, da ich meine neue noch nicht kannte. So bald wie möglich wollte ich sie ihr zuschicken. Amira verabschiedete sich herzlich von mir, und ich spürte, dass meine Geschichte sie zutiefst erschüttert hatte.
Es gab keine Möglichkeit umzukehren. So blieb mir nichts anderes übrig, als diesen Weg weiterzugehen und auf der Hut zu sein.
Mein Ehemann suchte mich bereits überall, denn bald würden wir im Hafen einlaufen.
»Einen Tag lang kannst du dich noch an deinen Kleidern freuen«, höhnte er boshaft. »Bald ist Schluss mit deinen Jeans und deinen hübschen kurzen Röcken.«
Die Ankunft in meinem Heimatland verhieß nichts Gutes! Willkommen in Algerien, dem Land des Islam, der Toleranz und des Friedens …
Ich ehre meine Religion, den Islam, denn es ist eine schlichte und tolerante Religion, die Achtung verdient. Aber ich wende mich gegen alle, die die Verse des Korans über die Frau zu ihrem Nutzen auslegen und verfälschen. Möge Gott uns muslimische Frauen beschützen!
Als das Schiff angelegt hatte, konnte unser Auto an Land fahren. Mit stolzgeschwellter Brust setzte Abdel sich ans Steuer seines Prestigeobjekts. Zuerst fuhren wir zu meinen Eltern.
Melissa konnte es kaum erwarten, ihre Großmutter und ihren Bruder wiederzusehen, während Norah und ich zögernd folgten. Abdel bemerkte unsere Niedergeschlagenheit.
»Du scheinst dich nicht sehr wohl zu fühlen?«, meinte er. »Jetzt bist du wieder im Land des Gerechten, wo die Gesetze des Islam herrschen. Von nun an wirst du besser auf dein Verhalten achten müssen, und vor allem auf deinen Ton. Mit deiner spitzen Zunge kannst du dir hier viele Probleme einhandeln.«
Hand in Hand stiegen Norah und ich die Treppe zum Haus hinauf. Ich lächelte ihr – und eigentlich auch mir selbst – aufmunternd zu. Sie lächelte zurück, aber ich wusste, wie schwer ihr zumute war.
Meine Mutter zeigte sich bemüht, uns einigermaßen freundlich zu begrüßen. Dann umarmte ich meinen Sohn. Er war nun fünfzehn Jahre und ein folgsamer junger Mann. Dabei hatte er ein Alter erreicht, in dem ein junger Mensch sich bereits eine eigene Meinung bilden kann. Nachdem er mir voller Stolz sein Zimmer gezeigt hatte, bat er mich, neben ihm Platz zu nehmen. Offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen.
»Ich habe eine Entscheidung getroffen, Samia!«, sagte er fest. »Ich werde nicht zu dir in euer neues Haus ziehen. Ich möchte mein ganzes Leben bei Mama Warda bleiben!«
»Hör mir zu, Amir! Deine Mutter bin ich, und Warda ist meine Mutter, also deine Großmutter«, wiederholte ich einmal mehr.
»Nein, Samia! Meine Mutter ist die Frau, die mich von Geburt an erzogen hat. Du hast mich lediglich in deinem Leib getragen und bist die Mutter meiner Schwestern. Ich empfinde nichts für dich.«
Die Entscheidung war gefallen, ich konnte nichts dagegen unternehmen. Mein Sohn war einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Er glaubte, dass ich ihn freiwillig meiner Mutter überlassen hatte, und weigerte sich, meine Version der Geschichte anzuhören. Mir war klar, dass er mir nicht glauben würde.
»Amir, ich werde dich niemals zwingen, etwas zu tun, das du nicht möchtest. Es wird bei mir immer ein Zimmer für dich geben, wo du stets willkommen sein wirst. Du musst wissen, dass ich dich genauso liebe wie deine Schwestern.«
Traurig verließ ich ihn, um zu den anderen ins Wohnzimmer zurückzukehren. Meine Mutter blickte mich durchdringend an, aber ich hatte ihr nichts zu sagen. Dann sah ich, wie sie Amir küsste, nachdem er ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte. Sie konnte stolz sein: Sie war eine gute Lehrerin gewesen, und er hatte seine Lektion brav gelernt. Ich hatte keinen Platz mehr in seinem Herzen. Für meinen Sohn war ich nur eine Frau unter anderen, nichts weiter. Von nun an war die Liebe zu seinen Schwestern das einzige Band zwischen uns.
Abdel unterhielt sich in einem anderen Zimmer
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