Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
sich gehen und sein Verhalten ändern? Ich hatte meine Zweifel. Die Gewalt war tief in ihm verwurzelt: Er hatte bereits miterlebt, wie sein Vater seine Mutter herumkommandierte, verprügelte und erniedrigte.
Eine solche Geschichte wiederholt sich über Generationen hinweg. Wir armen Mütter, Schwestern und Töchter! Aber heute gibt es Grund zur Hoffnung, denn trotz des Widerstands mancher Männer verbessert sich die Situation der Frau!
Eine Stunde später stand ich auf, denn Melissa hatte Hunger. Nach den Torturen dieser Nacht hatte ich das dringende Bedürfnis, mich jemandem anzuvertrauen. Meine Mutter war dafür die falsche Adresse. Und Amina? Ich ahnte, wie sie reagieren würde. Sie wäre zutiefst erschüttert, doch dann würde sie in mich dringen, dass ich meinen Mann anzeigen und mit meinen Töchtern fliehen solle. Wieder einmal schreckte ich vor diesem Schritt zurück, so sehr fürchtete ich mich vor den Konsequenzen. Es schmerzte mich, Amina zu sehen, denn ich beneidete sie um ihre Energie und ihr harmonisches Leben an der Seite eines geliebten Mannes. Wenn ich sie traf, erschien mir mein Leben nur noch unerträglicher!
Ich versuchte mir klarzumachen, dass ich nur auf mich selbst zählen konnte, um eine Lösung zu finden. Aber ich verhielt mich nicht so …
In all diesen Jahren habe ich mich mit diesem Mann abgefunden, weil ich an meine Kinder dachte. Ich habe seine Beschimpfungen ebenso ertragen wie die meiner Eltern, und ich habe mich ihm und ihnen unterworfen. Sie befahlen, und ich gehorchte. Alle meine Angehörigen schienen nach ebendiesen Regeln zu leben. Offenbar war ich die Einzige, die anders dachte! Steht eine Person mit ihrer Auffassung ganz allein da, kann sie sich nur schwer vorstellen, dass alle um sie herum sich nicht richtig verhalten. Mir blieben zwei Möglichkeiten: Entweder ich wurde verrückt, oder ich verstieß gegen die Regeln.
Da ich Kinder liebte, hatte ich eine private Krippe eingerichtet, die ich selbst leitete. Im Lauf der Jahre – Norah war mittlerweile vierzehn – hatte sich die Zahl der Kinder auf ungefähr dreißig erhöht. Ich fühlte mich nützlich und hatte auf diese Weise Kontakt zu anderen Erwachsenen, den Eltern der Kinder. Mein Unternehmen lief prächtig, aber am Monatsende wanderte mein Gewinn in die Taschen meines Ehemannes. Wenn ich dagegen protestierte, reagierte Abdel noch gewalttätiger.
Dennoch war ich überzeugt von meinem Recht: Ich ging einer anstrengenden Arbeit nach, für die man normalerweise einen Lohn erhielt. Mein Mann entgegnete, dass er das Geld für sein Unternehmen in Algerien benötige. Da mein Vater über seine Geschäfte auf dem Laufenden war, sprach ich ihn darauf an und legte meinen Standpunkt dar.
»Dein Mann sichert eure Zukunft, und da willst du das Geld, nur weil es deines ist, für dich behalten? Jede muslimische Frau muss ihr Geld ihrem Mann geben, damit sie einen Platz im Paradies erhält. Bist du denn auf dieses Geld angewiesen? Reicht dir das Geld, was ich euch gebe, nicht?«
»Ich arbeite hart dafür. Und ich sehe nicht ein, warum ich dieses Geld Abdel überlassen soll. Schließlich habe ich keine Ahnung, was er damit anstellt!«
»Er denkt nur an die Zukunft eurer Familie. In absehbarer Zeit werdet ihr nach Algerien zurückkehren. Du hast zwei Töchter, und Frankreich ist nicht das ideale Land, um sie großzuziehen, das kannst du mir glauben. Kürzlich habe ichlange mit deinem Mann und deiner Mutter gesprochen. Beide haben mir klargemacht, wie sehr sich deine Ansichten gewandelt haben, seit du in Frankreich lebst. Ich will nicht, dass das auf deine Töchter abfärbt. Dein Mann wird in Algerien ein großes Unternehmen leiten, und du als seine Frau wirst ihn unterstützen und deine Töchter so erziehen, wie es sich für eine gute Muslimin gehört.«
Ich war sprachlos! Wieder einmal hatten meine Eltern und mein Ehemann hinter meinem Rücken Pläne geschmiedet, ohne dass ich die geringste Ahnung davon hatte!
Wie sollte ich meinen Kindern diesen Umzug erklären? Wie sollte ich meiner vierzehnjährigen Tochter Norah beibringen, dass sie ihr Heimatland, ihre Schule und ihre Freundinnen verlassen musste, um in Algerien zu leben, wo die Worte Freiheit und Zukunft für eine Frau nicht existierten? Wir waren bereits hier nicht frei, aber welches Los erwartete uns dort?
Abdel hatte sich in den letzten Monaten stark verändert. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen und betete fünfmal am Tag. Ich durfte nicht mehr allein ausgehen;
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