Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
ich dich erst einmal zu Melissas Schule!«
Mit diesen Worten drängte sie mich zur Tür.
Was war nur vorgefallen, dass Abdel so plötzlich eingelenkt hatte? Hatte das Gespräch mit seiner Tochter zu diesem Sinneswandel geführt? Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass er in die Scheidung einwilligte – und jetzt, da dies offenbar der Fall war, blieb ich misstrauisch.
Am nächsten Tag erschien meine Nachbarin Malika bereits sehr früh mit dem Mittagessen. Ich freute mich, sie zu sehen, war aber gleichzeitig überrascht, dass sie trotz der Schmähreden meines Bruders zu mir kam. Ich sprach sie darauf an.
»Eine andere Nachbarin hat mir alles erzählt«, erwiderte sie ohne Umschweife. »Die Leute hier lieben es, über andereherzuziehen, vor allem über arme Frauen wie uns. Ich bin Witwe, daher habe ich keine Angst, dass du es mit meinem Mann treibst.«
Da mussten wir beide kichern, und mir fiel auf, wie lange ich schon nicht mehr gelacht hatte.
»Ich weiß, was eine alleinstehende Frau erdulden muss, wenn sie von herrschsüchtigen, starrköpfigen Männern umgeben ist! Ich werde dir immer zur Seite stehen. Es wird keinem deiner Verwandten und auch sonst niemandem gelingen, mich einzuschüchtern!«
Am Abend rief Hussein mich an. Die Worte sprudelten nur so aus mir hervor. Ich erzählte ihm, dass Abdel in die Scheidung einwilligen würde, dass mein Bruder die Nachbarschaft gegen mich aufhetzen wollte und dass ich den Freund meines Vaters besucht hatte.
»Das Wichtigste ist jetzt, dass wir die Scheidung in die Wege leiten. Je schneller du sie erwirken kannst, desto früher kann ich mit euch zusammenleben und euch schützen.«
»Ich hoffe, dass Abdel Wort hält und die Formalitäten sich rasch abwickeln lassen. Was würde aus meinen Töchtern werden, wenn mir jetzt etwas zustößt? Dieser Gedanke quält mich immer wieder! Ich brauche dich so sehr, Hussein.«
Abdels nächster Anruf brachte eine entscheidende Wendung. Er teilte mir mit, dass der Scheidungstermin für den siebten Oktober um zehn Uhr morgens anberaumt worden war. Dann erklärte er, dass er alle auf seinen Namen gekauften Möbelstücke für sich beanspruchen würde. Das war Abdel, wie er leibte und lebte! Doch was kümmerte mich das? Meine Freiheit war mir weit mehr wert!
Indem ich mich endlich scheiden lassen und Hussein heiraten konnte, erhielt ich vom Leben eine zweite Chance. Gott hatte mir einen Beschützer gesandt. Beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir auf, wie sehr meine Gedanken zu diesem Zeitpunkt noch von der muslimischen Tradition geprägt waren. Damals suchte ich nach einem Beschützer und war weit davon entfernt, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber ich bin in meiner Entwicklung nicht stehen geblieben …
Die Unsicherheit, die damals das Leben in Algier prägte, belastete mich mehr und mehr. Jeden Morgen, wenn meine Töchter zur Schule gingen, blickte ich ihnen ängstlich nach, und die geringste Verspätung erfüllte mich mit Panik.
Eines Abends kam Norah völlig außer Atem nach Hause. Ein sonderbarer Mann war ihr gefolgt.
»Ich bin schneller gegangen, aber er auch. Als ich loslief, rannte er hinter mir her. Ich glaubte schon, dass er mich entführen und den Terroristen in den Bergen ausliefern wollte. Was für ein Glück, dass unser Haus nicht mehr weit weg war!«
»Ich glaube, es ist besser, dass du zu Hause bleibst, bis Hussein bei uns lebt und dich zur Schule begleiten kann. Was meinst du?«
»Ich will dieses Land verlassen, denn ich fürchte mich hier!«
»Im Moment ist das unmöglich, Norah. Das hast du selbst gesehen! Wenn sich uns die Gelegenheit bietet, werden wir keinen Augenblick zögern, das musst du mir glauben!«
Wir hielten uns eine ganze Weile fest umschlungen, was uns beiden guttat.
Ungeduldig wartete ich auf den 7. Oktober, der mich und auch meine Töchter endlich von meiner traurigen Vergangenheit erlösen würde! Ich wollte diese schreckliche Ehe, diese von Hass, Angst und Gewalt geprägten Jahre hinter mir lassen. Ich wollte mich für immer von diesem Mann befreien, der so viel in mir zerstört und mir die schönsten Jahre meiner Jugend geraubt hatte.
12. Die ersehnte Scheidung
Endlich war der gesegnete Tag des 7. Oktobers 1994 da. Meine Töchter und ich befanden uns bereits im Warteraum, als Abdel hereinkam und alle mit ihm verknüpften schrecklichen Erinnerungen wach wurden. Mit hasserfüllten Blicken versuchte er uns einzuschüchtern, doch es gelang ihm nicht. Ich musste an mich halten, um
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