Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
konnte es kaum erwarten, bis Hussein vom Dienst nach Hause kam, und fuhr nicht mehr verstört auf, wenn der Schlüssel sich im Schloss drehte. Überhaupt ließen meine Ängste nach, einfach weil Hussein da war, wenn ich ihn brauchte. Außerdem beruhigte es mich, dass er Norah zur Schule begleitete.
Am folgenden Freitag fuhr Hussein mich zum Rathaus, wo die amtliche Eheschließung stattfinden sollte. Doch der Standesbeamte weigerte sich, die Zeremonie durchzuführen.
»Ihr Vater muss Sie begleiten, Madame. Andernfalls benötigen Sie ein von seiner Hand unterzeichnetes Dokument, in dem er Ihnen die Eheschließung gestattet.«
»Was soll das heißen?«, ereiferte Hussein sich. »Sie ist über dreißig und offiziell geschieden.«
Der Beamte griff schon wieder nach seiner Zeitung.
»Eine Frau kann niemals ihr eigener Vormund sein, auch nicht mit sechzig Jahren! Madame, Sie brauchen einen Vormund, um zu heiraten. Holen Sie Ihren Vater, und kommen Sie mit ihm wieder hierher!«
Hussein fasste meine Hand.
»Gehen wir, sonst verliere ich noch die Beherrschung. Nichts wie weg von diesem verfluchten Ort«, schimpfte er aufgebracht.
Dieses Gesetz unterband die Selbstständigkeit der Frauen, hatte aber auch Folgen für die Männer: Hussein konnte die Frau, die er liebte, nicht heiraten! Denn auch wenn die Frau nicht mehr jung war, durfte sie niemals eigene Entscheidungen fällen. Und dieses Los hatte sie ihr ganzes Leben lang zu tragen!
»Begreifst du jetzt endlich, wie eine Frau sich in diesem Land fühlen muss?«
»Langsam wird es mir klar. Wie sollen wir jetzt unsere Heirat in die Wege leiten?«
»Hast du Beziehungen zu Leuten aus der Armee? Vielleicht könnte ein hochrangiger Offizier die Stelle des Standesbeamten einnehmen?«
»Genau! Ich habe einen Freund, der auf dem Rathaus eines Ortes etwa hundert Kilometer von hier arbeitet. Aber diese Entfernung wird uns nicht abschrecken.«
»Notfalls würden wir sogar ins Ausland gehen«, fügte ich lächelnd hinzu.
»Bis nach Indien würde ich reisen, um dich heiraten zu können«, setzte er das Spiel fort.
Der Freund von Hussein versicherte, dass er unsere Eheschließung vornehmen könnte. Bereits am nächsten Tag erwartete er uns.
Melissa und Norah begleiteten uns, und während der ganzen Zeremonie herrschte eine sehr feierliche Stimmung.
So wurde ich also offiziell Madame Rafik. Diese Heirat machte mich überglücklich. Vor dem Gesetz besaß ich jetzt wieder eine neue Identität, und das galt auch für meine Töchter.
Aber dieser schöne blaue Himmel konnte nicht lange so ungetrübt bleiben; am Horizont tauchten bereits erste Wolken auf. Ich war nicht überrascht, als die Schwierigkeiten wiederkehrten. Denn ich blieb weiterhin das verfluchte Kind meiner Eltern, und daran würde sich auch nichts ändern, solange ich umgeben von Fanatikern in diesem Land lebte.
Erneut gab es Drohungen am Telefon, doch jetzt kamen sie von Fremden. Hier einige Beispiele:
»Du dreckige Hure, du hast dich von deiner Familie abgewandt. Du hast deinen reinen Mann vertrieben, um ihn durch einen unreinen zu ersetzen. Verflucht seist du für immer! Wir werden uns um dich und deine Töchter kümmern! Und der Verräter, der dich geheiratet hat, soll sich in Acht nehmen!«
»Du wirst krepieren, du Verfluchte! Wir werden dir die Kehle durchschneiden und dein Blut trinken. Dein Blut wird uns geradewegs ins Paradies bringen!«
»Dank unserer tatkräftigen Hilfe wird dieses Land von schändlichen Frauen wie dir und deinen Töchtern gesäubert werden. Wir werden dich umbringen! Und bevor wir deine Töchter töten, werden wir uns mit ihnen in den Bergen vergnügen – jung und schön wie sie sind!«
Ordinäres Gelächter untermalte diese Äußerungen. Ich legte auf, aber es ging immer wieder los. Mehrmals änderten wir unsere Telefonnummer. Aber nach einer kurzen Atempause setzten die Anrufe erneut ein.
Zu jener Zeit war der Fundamentalismus in Algerien allgegenwärtig. In früheren Zeiten gestattete der Islam den Frauen zu arbeiten. Viele waren als Friseurinnen tätig. Doch mit dem Erstarken des Fundamentalismus wurde ihnen das Recht genommen, ihren Beruf auszuüben. Eines Abends wurde in den Nachrichten eine Friseurin gezeigt, der Terroristen die Kehle durchgeschnitten hatten, weil sie ihnen die Stirn geboten und ihren Salon nicht aufgegeben hatte. Ihren Mund hatte man mit Stacheldraht zugeklemmt. Das sollte den Frauen zeigen, welche Strafe sie erwartete, wenn sie ein offenes Mundwerk
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