Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
köstliche Duft eines Schmorgerichtes wehte zu uns herein, aber ich hatte nicht den Mut, schon wieder um Essen zu bitten.
»Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte Norah. »Ich muss meiner kleinen Schwester helfen.«
Entschlossenen Schrittes machte sie sich in Richtung des verheißungsvollen Duftes auf. Ein paar Minuten später kehrte sie strahlend zurück – mit einem riesigen Teller Couscous in den Händen. Der Duft lockte Melissa herbei, und sie ließ sich nicht lange bitten.
»Langsam, Melissa. Wir werden nur die Hälfte essen und den Rest für heute Abend aufbewahren. Sei vernünftig!«
Meine Kinder aßen, bis sie satt waren, aber ich achtete darauf, dass der größere Teil für den Abend aufbewahrt wurde, was sich als eine sehr gute Idee erwies.
An diesem Tag begriff ich, was es heißt, Hunger zu haben. Und meine Töchter ebenso. Wie tief war ich gesunken! Ich war eine schlechte Mutter, denn ich war nicht in der Lage, meine Kinder zu ernähren.
Am nächsten Morgen machte ich die Bekanntschaft der Couscous-Spenderin, die uns nun mit Butterpfannkuchen und Milchkaffee verwöhnte. Als Melissa das Tablett mit den Speisen erblickte, stürzte sie sich darauf, als hätte sie seit einem Monat nichts mehr gegessen. Ihr Verhalten beunruhigte mich, denn es fiel mir nicht zum ersten Mal auf.
Wie freundlich war auch diese Nachbarin! Ich dankte ihr von ganzem Herzen. Gott zeigte uns wieder einmal, dass er über uns wachte!
An diesem Freitag – der Freitag ist in Algerien ein Feiertag – sahen wir gerade fern, als das Geschrei eines Mannesvon der Straße hereindrang. Ich erkannte die Stimme meines ältesten Bruders, der so laut brüllte, dass alle ihn hören konnten:
»Hört mir gut zu, ihr Nachbarn von Samia, die vor Gott und den Menschen nicht länger meine Schwester ist! Sie ist eine Frau des Bösen! Gebt ihr und ihren Töchtern nichts mehr zu essen! Wenn ihr dieser beschmutzten Frau weiterhin helft, wird sie es eines Tages mit euren Ehemännern treiben. Sie verdient weder eure Achtung noch euer Mitleid. Geht ihr aus dem Weg, Gott wird es euch lohnen! Es steht jedem frei, sie zu töten, um sich und gleichzeitig auch uns zu reinigen. Wer ihr Blut vergießt, hat sich einen Platz im Paradies verdient.«
Ein paar Nachbarn, vor allem Männer, umringten ihn und hörten ihm aufmerksam zu. Ich konnte nur ahnen, welche Schändlichkeiten er mir andichtete. So wurde ich also demjenigen preisgegeben, der sich einen Platz im Paradies sichern wollte. Er konnte mich töten, um meiner Familie einen Gefallen zu tun oder um sich selbst zu reinigen, wenn er irgendeine Schuld auf sich geladen hatte. Für ihn führte der Weg ins Paradies über meine Leiche!
Von nun an schwebte ich in Lebensgefahr, sodass ich auf keinen Fall das Haus verlassen oder allein bleiben durfte … Ich brauchte dringend Hilfe. Noch in der gleichen Nacht kam mir eine Idee, die ich am nächsten Morgen in die Tat umsetzte.
Norah blieb aufgrund einer Fortbildung für die Lehrer zu Hause. Nachdem ich Melissa zur Schule begleitet hatte, suchte ich den besten Freund meines Vaters auf, zu dem ich stets Vertrauen gehabt hatte. Vielleicht konnte er auf meinen Vater einwirken, dass er uns etwas Geld gab. Nachdem er mir aufmerksam zugehört hatte, versprach er, über mein Ansinnen nachzudenken. Anschließend wollte er mir Bescheid geben … Ich wusste nicht, ob mein Vorstoß erfolgreich sein würde, aber ich hatte immerhin etwas versucht!
Zu Hause wollte ich so schnell wie möglich Norah davon erzählen, aber … dort erwartete mich eine böse Überraschung. Meine Tochter wirkte völlig aufgelöst.
»Was ist passiert? Abdel hat wieder angerufen, nicht wahr? Erzähl mir, was er gesagt hat!«
Ich sah, wie angespannt sie war, doch ihre Mundwinkel verzogen sich gleichzeitig zu einem rätselhaften Lächeln. Ich konnte diesen Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Jetzt sag doch endlich! Was ist geschehen?«, drang ich in sie.
»Mach dir keine Sorgen, Mama. Er wird uns nie wieder bedrohen! Du kannst jetzt ruhig sein. Demnächst wird er anrufen, um dir den Scheidungstermin mitzuteilen.«
Ich war starr vor Staunen und traute meinen Ohren nicht. Was hieß das schon wieder? Sollte Abdel tatsächlich seine Meinung geändert haben? Plötzlich warf sich Norah in meine Arme und drückte mich fest an sich.
»Norah, bitte sag mir alles! Lass mich nicht im Ungewissen!«, rief ich.
»Er wird uns von jetzt an in Frieden lassen. Und bald werden wir ihn für immer los sein! Jetzt begleite
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