Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
hatten, wenn sie also Widerworte gaben. Diese Bilder waren so furchtbar und aufwühlend, dass es uns kalt den Rücken hinunterlief.
Dieses Land war nicht länger meine Heimat. Der Gedanke, mit meinen Töchtern von hier fortzugehen, beschäftigte mich immer mehr. Ich wurde unruhig, sobald eine von ihnen die Tür hinter sich schloss, und konnte erst wieder aufatmen, wenn beide zu Hause waren.
Einen Tag nach dem Bericht über die ermordete Friseurin erhielt ich einen weiteren anonymen Anruf.
»Hast du gestern Abend die schönen Bilder im Fernsehen gesehen?«
»Ich habe keine Angst vor euch, und ihr könnt mir bis ans Ende meiner Tage gestohlen bleiben!«, erwiderte ich.
»Du hast also keine Angst, du Großmaul! Weißt du, was mit Großmäulern wie dir geschieht? Man klemmt ihnen den Kiefer mit Stacheldraht zu, und dann schneidet man ihnen die Kehle durch.«
Voller Entsetzen legte ich auf. Ich nahm diese Worte sehr ernst und redete mit Hussein darüber. Doch für ihn waren das nichts weiter als leere Drohungen, von denen keinerlei Gefahr ausging. Er riet mir, beim nächsten Mal gleich aufzulegen und überhaupt nicht hinzuhören.
Trotz der Unterstützung durch meinen Ehemann lebte ich in einem Gefühl ständiger Unsicherheit. Ich war wie gelähmt, sobald Norah das Haus verließ. Heute weiß ich, dass meine Ängste geradezu zwanghaft waren.
Eines Abends wollte Hussein sie von der Schule abholen. Nachdem er vergeblich auf sie gewartet hatte, erfuhr er vom Direktor, dass sie häufig unentschuldigt fehlte. Er fuhr durch die Straßen und entdeckte sie schließlich in einer Gruppe von Freundinnen. Zu Hause eröffnete er mir unverzüglich, dass die stets so vernünftig wirkende Norah die Schule schwänzte. Noch dazu heimlich und trotz der allgegenwärtigen Gefahren! Wie leichtsinnig von ihr! Ich verstand ihr Verhalten nicht und wollte es auf gar keinen Fall dulden! Norah schuldete mir eine Erklärung.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, brauste ich auf. »Warum tust du das? Ich gehe das Risiko ein, dich in die Schule zu schicken, Hussein macht sich die Mühe, dich zu begleiten, damit dir nichts passiert, und du bringst leichtsinnig dein Leben in Gefahr! Du vertändelst deine Zeit mit Freundinnen. Nenn mir einen einzigen vernünftigen Grund für dein Verhalten, während ich zu Hause voller Angst auf dich warte! Nun, ich höre!«
»Mama! Ich konnte einfach nicht anders. Nur wenn ich die Schule schwänze, kann ich mich mit meinen neuen algerischen Freundinnen treffen. Ich brauche einfach etwas Freiheit, und ich will auch Spaß haben. Ich bin schließlich noch nicht so alt wie du! Du teilst dein Leben und deine Liebe mit deinem Ehemann, aber ich habe keinen Geliebten, und ich fühle mich sehr allein.«
Norah holte Luft. Sie sah mich angriffslustig an und fuhr wütend fort:
»Es ist schließlich deine Schuld, dass ich hier in Algerien festsitze. Viel lieber wäre ich in Frankreich bei meinen Freundinnen. Du kannst mich hier nicht gefangen halten, nur weil du so übertriebene Ängste hegst.«
Ihre Vorwürfe erbitterten mich nur noch mehr, sodass ich schließlich die Beherrschung verlor. Wie häufig in solchen Situationen kamen mir unbedachte Worte über die Lippen:
»Du hast Geheimnisse vor mir. Also kann ich dir nicht mehr vertrauen! Du fehlst in der Schule, und ich weiß nicht, wo du dich herumtreibst. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass dir etwas zustößt. Wenn du meine Ängste übertrieben findest, dann bist du vielleicht bei deinem Vater besser aufgehoben als bei mir. Er wird dir sicher die Freiheit lassen, die du dir wünschst! Ich werde ihn suchen, und dann kannst du bei ihm leben.«
Da brach Norah plötzlich in Schluchzen aus. Sie schimpfte zwar weiter, doch jetzt lag Verzweiflung in ihrer Stimme. Noch ganz in meiner Wut gefangen, blieb ich zunächst ungerührt.
»Nein, Mama, schick mich nicht zu ihm zurück, sonst bringe ich mich um! Nie wieder will ich ertragen, was er mir jahrelang angetan hat.«
»An mir hat er sich vergriffen, Norah, vergiss das nicht. Nicht an dir!«, entgegnete ich.
»Mama, du hast nie durchgemacht, was er mir angetan hat. Schließlich hat dein Vater dich nicht jahrelang missbraucht!«, schrie sie völlig aufgelöst.
Augenblicklich war meine Wut verraucht. Die Enthüllung meiner Tochter entsetzte und verstörte mich zutiefst. Wie war es möglich, dass ich das nicht bemerkt hatte? Ich wusste, dass Abdel ein Monster war, aber niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass er
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