Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
so weit gehen könnte. Nicht einen Moment bezweifelte ich, dass meine Tochter die Wahrheit sagte. Ich litt für sie, ich litt so sehr, dass ich am liebsten gestorben wäre. Ich wollte an ihrer Stelle sein, um all dieses Grauen und die Spuren dieser Erfahrungen von ihr zu nehmen.
Ich schloss Norah in die Arme und drückte sie an mein Herz. Nach einer Weile setzten wir uns dicht nebeneinander aufs Sofa. Ich bat sie, mir alles zu erzählen.
Abdel hatte sie jahrelang missbraucht. Es hatte begonnen, als sie fünf Jahre alt war, und bis zu unserer Trennung angedauert, als sie dreizehn war. Norah sprach abgehackt, mit der Stimme eines kleinen verängstigten Mädchens. Es tat mir weh, sie so reden zu hören.
Endlich ließ sie mich teilhaben an ihrem Abscheu und ihren Ängsten. Sie sprach von ihren Schmerzen und vor allem von dem Gefühl der Ohnmacht. Er hatte ihr gedroht, dass er mich umbringen würde, wenn sie mir etwas erzählte. Während all der Jahre hatte sie sein schändliches Geheimnis gehütet, um mir noch größeres Leid zu ersparen. Lange Zeit hatte sie sich schuldig gefühlt, ohne genau zu wissen, wofür. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass sie heute die ganze Verantwortung für das Geschehene ihrem Vater anlastete. Er war so weit gegangen, ihr weiszumachen, dass alle braven und folgsamen Mädchen diese Dinge mit ihrem Vater tun mussten, um sich seine Liebe zu verdienen!
Als ihre Freundinnen dann von ihren Freunden und ihrer Verliebtheit sprachen, hatte Norah sich erneut beschmutzt und elend gefühlt. Albträume hatten sie gequält, die erst nach und nach verblasst waren.
Ich schämte mich ganz fürchterlich! Unter meinem eigenen Dach war mein kleines Mädchen acht Jahre lang sexuell missbraucht worden, ohne dass ich das Geringste geahnt hatte! Was war ich für eine unwürdige Mutter! Sie hatte mich beschützt, aber wer hatte sie beschützt? Ich war so sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, welchen Qualen sie ausgesetzt war.
Der Missbrauch der eigenen, unschuldigen Tochter erschien mir als ein nicht wiedergutzumachendes Verbrechen! Die Vergewaltigung der Ehefrau war damit nicht vergleichbar: Auch sie konnte ich in keinster Weise akzeptieren, aber immerhin als Teil unserer Traditionen sehen.
So machte ich mir selbst die schlimmsten Vorwürfe, aber mein schlechtes Gewissen wandelte sich schließlich zu einer ungeheuren Wut auf dieses niederträchtige, perverse Ungeheuer. Hätte ich ihn zu dieser Zeit zu fassen bekommen, so hätte ich ihn mit meinen eigenen Händen ermordet für all das Schreckliche, das er meiner Tochter jahrelang angetan hatte. Warum durfte ein solches Monster überhaupt weiterleben? Ich wollte meine Tochter rächen und damit gleichzeitig auch mich selbst.
Meine arme kleine Norah! Ich brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass sich hinter der Fassade des starken, reifen und vernünftigen Mädchens ein empfindsames und verletztes Kind verbarg.
Bei dieser Gelegenheit offenbarte Norah mir auch, dass meine Scheidung nur dank einer Abmachung zwischen ihr und ihrem Vater zustande gekommen sei. Während des besagten Telefongesprächs hatte Norah ihm gedroht, den Schleierzu lüften und preiszugeben, was er ihr angetan hatte, wenn er nicht in die Scheidung einwilligte und für immer aus unserem Leben verschwand.
Ich war wie benommen von diesen Geständnissen. So viele leidvolle Jahre hatte meine kleine Tochter das schändliche Verhalten ihres Vaters für sich behalten. Stumm und einsam hatte sie gelitten. Ich versicherte ihr wieder und wieder, dass ich immer für sie da sein würde. Und wenn es noch so viele Probleme in meinem Leben geben mochte, sie sollte mich nicht mehr beschützen müssen, denn ich war eine erwachsene Frau und besaß mehr Erfahrung als sie. Ich bat sie, mir zu vertrauen und mit allen ihren Sorgen zu mir zu kommen.
Sie hörte mir aufmerksam zu, bis ich geendet hatte. Dann schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln und umarmte mich. Diese Geste der Zuwendung linderte mein Gefühl, eine schlechte Mutter gewesen zu sein – eine Mutter, die nicht verhindert hatte, dass ihrer Tochter so Furchtbares widerfahren war!
Wie konnte ich das wiedergutmachen? Ich konnte das Schreckliche nicht auslöschen, das er ihr zugefügt hatte; ich konnte es lediglich mildern. An diesem Tag beschloss ich, den Bedürfnissen und Gefühlen meiner Tochter aufmerksamer zu begegnen. Ich wollte mich nun auch um das kleine empfindsame Mädchen kümmern,
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