Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
nicht so traurig. Denk daran, dass wir eines Tages von hier fortgehen werden. Aber jetzt wollen wir erst einmal ein wenig an die frische Luft.«
Nachdem ich den Schleier angelegt hatte, verließen wir das Haus. Ich fühlte mich so schwer, dass ich Mühe hatte zu gehen. Da mich normalerweise Hussein mit dem Auto überall hinfuhr, war ich völlig aus der Übung.
»Es tut so gut, ein wenig zu gehen und draußen zu sein!«
»Das nennst du gehen und draußen sein! Wir atmen ein wenig frische Luft, mehr nicht«, erwiderte Norah zornig.
»Ich weiß, dass das nicht die Freiheit ist, die du dir wünschst! Aber Gott schenkt uns heute einen Hauch da von. Eines Tages werden wir frei sein und gehen, wohin wir wollen.«
»An diesen gepriesenen Tag glaube ich nicht. Er scheint immer weiter in die Ferne zu rücken, anstatt näher zu kommen. Ich bin sicher, dass wir in diesem verfluchten Land sterben werden!«, entgegnete sie mit Tränen in den Augen.
Plötzlich blieb ein Mann direkt vor uns stehen und starrte uns verächtlich an. Dann spuckte er vor uns aus und schrie:
»Zur Hölle mit den unreinen Frauen!« Mit diesen Worten entfernte er sich.
Das war genug für Norah: Sie machte auf der Stelle kehrt und rannte ins Haus.
Die politische Situation hatte sich nicht verändert; es herrschte weiterhin eine Atmosphäre von Furcht und Schrecken. Wie lange würde ich dieses Leben noch ertragen können?
Melissa hatte diese Schmähung glücklicherweise nicht mitbekommen. Das freute mich, denn anders als ihre ältere Schwester fand sie sich allmählich wieder in ihrem Alltag zurecht.
Spät am Abend klingelte das Telefon. Ich glaubte, es sei Hussein, der mir mitteilen wollte, dass er später kam. Doch es war ein erneuter Drohanruf.
»Wie, du bist also guter Hoffnung! Weißt du, was mit dir passieren wird? Man wird dir den Bauch aufschlitzen, deinen kleinen Bastard herausreißen und ihn töten. Und dann stecken wir den Kopf deines Ehemanns hinein.«
Dann folgte ein teuflisches Lachen. Hastig legte ich auf.
An Schlaf war nun nicht mehr zu denken, solange Hussein noch nicht zurück war. Ich betete zu Gott, ihm möge nichts zugestoßen sein. Da ich nicht länger ruhig warten konnte, ging ich pausenlos in meinem Schlafzimmer auf und ab.
»Wer hat angerufen, Mama?«, wollte Melissa wissen.
»Es war Hussein. Er wollte mir nur sagen, dass er sich etwas verspätet. Schlaf weiter, mein Schatz!«, log ich, um sie nicht zu beunruhigen.
Hussein kam in dieser Nacht sehr spät nach Hause. Kaum hatte er den Fuß über die Schwelle gesetzt, da brach meine Wut wie ein zerstörerischer Orkan über ihn herein. Es ging so weit, dass ich ihn beschuldigte, an allem schuld zu sein, was uns widerfuhr. Ich wusste, dass das ungerecht war, aber ich konnte mich nicht länger beherrschen. Hussein blieb ruhig und versuchte vergebens, mich wieder zur Vernunft zu bringen.
Plötzlich spürte ich, wie eine warme Flüssigkeit über meine Schenkel rann. Ich verlor das Fruchtwasser … Es war doch noch gar nicht so weit! Die Niederkunft sollte erst in drei Wochen sein … Und ich wollte keinen Kaiserschnitt! Ich wollte vor der Geburt fliehen, denn ich glaubte, dass der Anästhesist die Gelegenheit nutzen würde, um mich umzubringen! Ich war wirklich paranoid geworden. Panik übermannte mich.
Hussein bewahrte immer noch ruhig Blut und holte das Auto. In der Zwischenzeit kam ich wieder etwas zur Besinnung. Meine Töchter schliefen, und ich überlegte fieberhaft: Sie konnten nicht allein bleiben, bis Hussein wieder zurückkam! Meine Nachbarin Malika würde mir sicher helfen. Ich beschloss, sie anzurufen.
»Malika, entschuldige bitte, dass ich dich wecke! Es ist so weit, die Geburt geht los. Kannst du auf die Mädchen aufpassen, solange mein Mann nicht da ist?«
»Ich ziehe mich rasch an und komme rüber, Samia.«
Dieses Problem war also geregelt!
Im Flur hörte ich Schritte, es war Norah.
»Was ist los?«
»Ich verliere das Fruchtwasser und muss schnellstens ins Krankenhaus. Deine kleinen Brüder wollen heraus. Unsere Nachbarin ist schon auf dem Weg hierher. Versprich mir, dass du immer auf deine kleine Schwester aufpassen wirst, falls mir etwas zustoßen sollte. Lass niemals zu, dass man euch trennt! Ihr müsst immer zusammenbleiben. Vergiss nie, dass ich euch alle beide sehr, sehr liebe.«
»Warum redest du so, Mama? Es klingt beinahe, als würdest du uns für immer verlassen!«
»Ich werde alles tun, um zu euch zurückzukommen, das verspreche ich dir.
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