Der Schlittenmacher
Zeitschrift New Democracy . Von der Dichterin, Miss Elizabeth Bishop, sind noch viele andere Gedichte erschienen. Mrs. Oleander hat gesagt, dass Miss Elizabeth Bishop eine richtige Weltreisende ist, aber immer wieder einmal in unsere Provinz kommt. Und weißt du, was? Wo wir heute früh in den Bus eingestiegen sind – das
Haus direkt gegenüber der Esso-Tankstelle, das ist das Haus, in dem die Dichterin einige Jahre gewohnt hat. Sie ging in die Schule von Great Village. Ihre Mutter, und das ist kein Klatsch, sondern eine Tatsache, ihre Mutter kam in ein Sanatorium und blieb auch dort. Irgendein Nervenleiden, glaube ich. Da war Elizabeth erst fünf Jahre alt. Schlimm, nicht? Aber das geht natürlich niemanden etwas an, außer der Familie.«
Ich legte das Gedicht in die Handtasche meiner Tante zurück. »Ich bräuchte zehn Philologen, die mir helfen, es so zu verstehen, wie es gemeint ist«, sagte ich.
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel«, erwiderte sie. »Ein Gedicht kommt einem den halben Weg entgegen – die andere Hälfte geht man selber, und dann schaut man, was passiert.«
»Wie das, was du vorhin über Freundschaft und Ehe gesagt hast, nicht? Man muss etwas dafür tun.«
»Ich meine nur, wenn du wohlwollend an ein Gedicht herangehst, dann wird das Gedicht auch so sein. Was die Bedeutung betrifft, so sagt es jedem etwas anderes. Mehr musst du nicht wissen.«
»› Während das brennende Schiff hilflos untergeht ‹ – das sagt mir etwas«, meinte ich. »Und › der Sohn, der stockend vorträgt ‹ – ich weiß, wie das ist.«
»Siehst du, das wäre schon mal ein guter Anfang, um mit dem Gedicht klarzukommen.«
»Nein, ich hab mich genug bemüht für heute, Tante Constance. Aber es freut mich, dass dir das Gedicht so gefällt.«
»Wenn ich wieder heimkomme, klebe ich es in mein Tagebuch. Mrs. Oleander meint, dass sich Miss Bishop durchaus einen Namen machen kann.«
»Zumindest in Great Village ist sie sicher schon bekannt, meinst du nicht?«
»Natürlich«, antwortete meine Tante. »Trotzdem, stell dir vor, wie es sein muss, wenn man seine ganz privaten Gedanken vor Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten Fremden offenlegt. Die Dichter leiden darunter. Aber wir haben einen Nutzen davon. Natürlich können Gedichte manchmal so verschlüsselt sein, dass der Durchschnittsmensch sie kaum versteht. Und ich würde mich da jetzt durchaus auch als Durchschnittsmenschen sehen.«
Meine Tante blickte eine Weile aus dem Fenster, dann schlief sie schließlich ein. Sie wachte erst auf, als der Bus in Halifax ankam. Mein Onkel hatte eine Art Rollwagen für den Koffer meiner Tante gebastelt – eine kleine Plattform aus Brettern, etwa einen halben mal einen Meter groß, mit Rädern dran, die er von alten Tretrollern genommen hatte. Mr. Harrison und ich luden den Koffer darauf. Das Gestell wackelte ein bisschen, aber es erfüllte seinen Zweck recht gut und sorgte außerdem für einiges Aufsehen unter den Passanten, während wir die vier Blocks bis zum Kai gingen, wo ein Matrose den Koffer über die Gangway zur Fähre St. Michael’s hinaufzog. Die St. Michael’s würde in Sydney Mines auf Cape Breton anlegen, wo die Reise fortgesetzt werden sollte mit der Fähre Caribou , die die Cabot-Straße nach Neufundland überquerte.
»Dann mach dir einen schönen Tag in der Stadt«, meinte meine Tante. »Sieh dir einen Film an. Iss in einem Restaurant. Auf einem Fensterplatz fühlt man sich weniger allein, habe ich mir sagen lassen. Tu, wozu du Lust hast. Aber mach dir keine Gedanken über die Dinge zu Hause, wenigstens solange du hier bist. Ich schicke euch eine Postkarte.«
»Ich wünsche dir eine wunderschöne Zeit«, sagte ich.
»Wyatt, es würde dir vielleicht gut tun, wenn du Joe und Katherine besuchst.«
»Ich könnte gleich von hier aus zum Friedhof rübergehen.«
»Pass auf dich auf, mein Lieber«, sagte meine Tante. »Und viel Glück vor allem im Rekrutierungsbüro. Diese jungen Männer im Bus, sie waren ungefähr in deinem Alter. Ich bete dafür, dass Gott ihnen die Kraft gibt, es durchzustehen, wo immer sie hingeschickt werden. Ich hab dich sehr lieb. Ich glaube, du wirst alles so entscheiden, wie es für dich am besten ist.«
Wir umarmten uns, und ich sah meiner Tante nach, während sie die Gangway zur Fähre hinaufging. An Deck winkte sie mir noch einmal zu, dann verschwand sie. Ich dachte mir, bestimmt serviert man da oben Tee und Kekse, und das lässt sie sich nicht entgehen. Ich öffnete meinen
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