Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
Vom Netzwerk:
ihre Fähre hinausfuhr. Warum hatte ich es so eilig gehabt? Der Friedhof hätte warten können. Man kann ja wohl kaum zu spät kommen, wenn man seine Eltern auf dem Friedhof besucht, nicht wahr? Das alles erfüllte mich mit großem Bedauern. Tante Constance sagte oft, wenn sich etwas nicht mehr ändern ließ: »Das ist vorbei und kehrt nicht zurück – wie Wasser, das unter der Brücke durchgeflossen ist.« Aber der Vergleich mit der Brücke widerstrebte mir jetzt.
    Und dann auch noch Tildas Hochzeit in zwei Tagen (die Hochzeit der Liebe meines Lebens). Und mein Anzug musste vorher gebügelt und gereinigt werden. Das konnte ich in Middle Economy nicht machen lassen – dazu musste ich nach Truro.

1789 ZERBROCHENE GRAMMOFONPLATTEN
    Als ich nach Hause kam, nahm ich gleich meinen Anzug und fuhr damit nach Truro. Ich hatte nicht nach meinem Onkel gesehen, obwohl ich wusste, dass er in der Werkstatt arbeitete. Ich hörte von draußen das Radio laufen. Jedenfalls fuhr ich direkt zu Winterson’s Cleaning Establishment in der Phillips Street im Zentrum von Truro. Die Inhaberin – laut dem Schild auf dem Ladentisch eine gewisse Bettina Winterson – sagte, es würde höchstwahrscheinlich zwei Tage dauern. »Eine Vorhersage ist kein Versprechen«, erwiderte ich, ohne Grund unhöflich. Mir wurde erst nachher im Wagen bewusst, dass ich einen Satz aus dem Highland Book of Platitudes zitiert hatte.
    »Okay, dann eben ein Versprechen: Sie haben Ihren Anzug bis morgen um vier«, sagte sie. »Wenn nicht, kriegen Sie von mir eine kostenlose Reinigung. Hosen, Hemden, was Sie wollen. Aber natürlich nur ein Mal. Ist das ein Versprechen oder nicht?«
    Als ich von Truro zurückfuhr, war ich erleichtert, dass ich bei Tildas Hochzeit wenigstens vorzeigbar gekleidet sein würde. Auf der Fahrt über die Route 2 bemühte ich mich sehr, an nichts Besonderes zu denken. Ich wollte alle Sorgen und alle quälenden Gedanken beiseiteschieben – und es schien zu funktionieren, denn bald war mein Kopf so leer wie das Minas-Becken
vor mir, in dem ich kein einziges Boot sah, nur eine Möwe, die in der Ferne verschwand.
    Am nächsten Morgen traf ich Tilda in der Bäckerei. Ich hatte bereits begonnen, mich auf diese Treffen zu freuen, obwohl mir klar war, dass es bald damit aus sein würde. Aber egal, da war sie wieder, in zwei Pullover gehüllt und in einen dicken Schal gewickelt. Die Hose von Hans, die sie trug, hatte sie aufgerollt, und darunter guckten Winterleggings hervor. Sie sah ein bisschen zerzaust aus, und ich sagte: »War wohl eine lange Nacht gestern, was?« Sie gähnte so, als würde ihr das Gesicht dabei wehtun. Sie kam mir ziemlich aufgewühlt und nervös vor und konnte mir zuerst gar nicht in die Augen sehen. Aber dann tat sie das, was sie immer tat, wenn sie meine volle Aufmerksamkeit wollte – sie legte ihre Hände fest auf die meinen, drückte einen Fingernagel in meine Knöchel und begann zu reden.
    »Wir haben den Hochzeitstermin vorverlegt«, sagte sie.
    »Auf wann?«, fragte ich.
    »Also, Wyatt, wir haben schon gestern um fünf Uhr geheiratet. «
    »Das verstehe ich nicht. Du wolltest doch, dass ich dich zum Traualtar führe.«
    »Das hab ich selbst gemacht.«
    »Ich dachte, in Nova Scotia braucht man einen Trauzeugen.«
    »Das hat Cornelia Tell gemacht. Sie hatte gerade ihre Scones gebacken und hatte ein bisschen Zeit, bis sie mit den Cupcakes anfangen würde. Und sie hat uns auch dran erinnert, dass wir Ringe brauchen. Ich sagte, wir hätten keine, und sie hat für jeden ein Stück Schnur abgeschnitten – die haben wir dann genommen. Wir kaufen später richtige Ringe – ich hoffe, Mutter wird mich beraten, wenn sie zurück ist. Sie und ich, wir könnten wieder mal für einen Tag nach Halifax fahren. Jedenfalls
hat Reverend Plumly kein Wort gesagt, weil wir keine richtigen Ringe hatten.«
    »Vielleicht hat er gedacht, das sei in Deutschland so üblich.«
    »Wyatt, du klingst immer mehr wie mein Vater.«
    »Nein, Donald ist gefährlich wütend – bei mir ist es keine Wut, nur Neid, falls du’s noch nicht bemerkt hast.«
    »Ich habe einiges bemerkt.«
    »Trotzdem verstehe ich nicht, warum ihr die Hochzeit vorverlegt habt.«
    »Das kann ich dir erklären. Reverend Plumly muss an dem Tag, den wir eigentlich ausgemacht hatten, zu einem Begräbnis in Advocate, und die Familie – es sind die Dewis’ – will, dass ich die Totenklage übernehme. Es ist einer der Onkel, der gestorben ist. Er war mit der ganzen Sippe heillos

Weitere Kostenlose Bücher