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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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dass Tante Constance zwei Fahrkarten für die Caribou gekauft hat.«
    Tilda atmete fünfmal tief durch und zählte laut mit. »Also, ich werde jetzt Folgendes tun«, sagte sie schließlich. »Erstens werde ich zu Fuß zur Bäckerei gehen. Du wirst mich nicht
hinfahren. Weil es genau die richtige Strecke zum Weinen ist. Auch wenn man noch nicht genau weiß, worüber man weinen soll. Und so traurig eine versenkte Fähre schon an sich ist – es könnte immerhin sein, dass meine Mutter nicht mitgefahren ist. Während wir also hier reden, freut sie sich vielleicht gerade über die Taufe und lacht – nur kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, an welchem Tag die Taufe sein sollte. Ich weiß aber, dass sie auf der Hinfahrt einen oder zwei Zwischenstopps eingelegt hat – oder wollte sie das erst auf dem Rückweg machen?«
    »Heute ist der 14. Oktober, das ist alles, was ich weiß«, sagte ich.
    Tilda setzte sich auf ihr Bett und stand sofort wieder auf. »… und wenn ich in der Bäckerei bin, gehe ich gleich hinauf«, fuhr sie fort. »Weil Hans gerade seine Unterlagen ordnet. Für seine Abschlussarbeit in Philologie. Wir werden das Radio einschalten, und ich werde meinem Mann sagen …«
    Sie biss sich auf die Lippe und ließ den Rest ihres Gedankens ungesagt. Tilda drückte das Highland Book of Platitudes an ihre Brust, dann eilte sie aus ihrem Zimmer und zur Haustür hinaus, um zur Bäckerei zurückzukehren.
    In den folgenden Stunden schlief ich wie ein Toter auf dem Bett meiner Tante und meines Onkels. Ich träumte nichts. Danach aß ich die Reste eines Eintopfs, dazu Brot und ein Glas Wasser, und wenig später hörte ich den Wagen meines Onkels draußen vor dem Haus. Das war gegen sieben Uhr abends, es war schon dunkel. Er kam aber nicht ins Haus, sondern ging gleich in die Werkstatt.
    Ich ließ eine Stehlampe im Wohnzimmer und eine Lampe auf der Veranda brennen und fuhr zur Bäckerei. Dort ging ich gleich nach oben und klopfte laut, und Tilda ließ mich herein.
Hans saß am Küchentisch, auf dem sich Unterlagen und Bücher stapelten. Manches in deutscher Sprache, manches in Englisch. Ohne ein Wort zu sagen, ging Hans zum Schrank und nahm eine viertelvolle Flasche Wodka heraus, dann überlegte er kurz und holte auch noch eine zweite, ungeöffnete Flasche. Er machte auf dem Tisch Platz für die Flaschen. Tilda stellte Gläser auf den Tisch, und Hans schenkte ein.
    Wir hoben unsere Gläser und zögerten einige Augenblicke, doch keiner wusste recht, was er sagen sollte. Tilda fing schließlich an zu schluchzen. »Meine Mutter konnte nicht einmal schwimmen«, brachte sie schließlich heraus. »Als ich klein war, ging sie so oft mit mir an den Strand in Parrsboro, ein paarmal auch nach Advocate Harbor, wo immer Treibholz angespült wird. Selbst am heißesten Sommertag hat sie höchstens einen Zeh ins Wasser gesteckt. Ich hab mich immer sofort reingestürzt.«
    Hans wollte Tilda offenbar von den Gedanken an ihre Mutter ablenken und legte auf dem Grammofon Schuberts Impromptu in As-Dur auf. Ich fragte mich aber, ob Schuberts Klavierstück Tilda nicht noch intensiver an Constance denken ließ. Jedenfalls hatte die Musik bei mir diese Wirkung. Es dauerte keine Minute, bis ich mir vorstellte, wie meine Tante im Meer um sich schlug und es nicht schaffte, zu einem Rettungsboot zu kommen. Vielleicht hatte ich so etwas in einem der Zeitungsberichte gelesen, die in der Werkstatt an der Wand hingen.
    »Woher habt ihr das Grammofon?«, fragte ich.
    »Pfandhaus«, sagte Tilda. »Die paar Schallplatten, die wir haben, hat Hans auch im Pfandhaus gekauft. Als wir Randall im Krankenhaus besuchten.«
    Ich nahm mein Glas und kippte es in einem Zug hinunter. Der Wodka brannte mir in der Kehle. »Ich muss zugeben, dass
ich dieses Zeug noch nie getrunken habe«, brachte ich mühsam heraus.
    »Hans meint, man sollte ihn möglichst kalt trinken«, sagte Tilda.
    Wir saßen bei Kerzenlicht, tranken und lauschten der Musik. Als Hans die Schubert-Platte umdrehte, sagte er: »Wyatt, es ist ziemlich klar, was passiert ist.«
    »Wir wissen noch nicht, was passiert ist, Hans«, erwiderte ich.
    »Doch, ich glaube, wir wissen es sehr wohl«, beharrte er. »Ich glaube, dass ein U-Boot aus dem Land, in dem ich geboren wurde, meine Schwiegermutter Constance Bates-Hillyer getötet hat.«
    »Constance hat vielleicht gar nicht diese Fähre genommen«, sagte ich.
    »Es ist ja gut, die Hoffnung nicht aufzugeben, Wyatt. Ja, aber ich habe die

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